Hannover-Messe verliert nach Corona deutlich an Strahlkraft
Er schraubt, er lächelt, er schüttelt Hände, er hält einen Fahrradhelm in die Kamera: Bundeskanzler Olaf Scholz tritt bei seinem Eröffnungsrundgang auf der Hannover-Messe am Montag so volksnah wie selten auf. Doch kaum steht er am Mikrofon, wird der SPD-Politiker wieder ernst. „Vor uns liegt nicht weniger als die größte Transformation unserer Wirtschaft seit Beginn der Industrialisierung“ sagt der Bundeskanzler. Die deutsche Wirtschaft müsse weniger Ressourcen verbrauchen, CO2-neutral wirtschaften, digitaler werden und mehr künstliche Intelligenz nutzen.
Und nicht nur inhaltlich geht es bei der ersten Hannover-Messe seit drei Jahren zuallererst um Krisenbewältigung. Auch die immer noch größte Industrieausstellung der Welt ist angeschlagen. „Die Messe ist tot“, bilanziert ein erfahrener Messebeobachter enttäuscht. So ein geringes Besucheraufkommen habe er noch nie erlebt. Bei den Ausstellern ist die Stimmungslage gemischt. NDR-Journalistin Christina Harland spricht von einem „würdigen Comeback“ und einem „starken Zeichen des Aufbruchs“.
Klar ist: Von der Strahlkraft einer Weltleitmesse ist am Eröffnungstag wenig bis gar nichts zu spüren. Lange Schlangen gibt es nur zur Mittagszeit an den Food Trucks zwischen den Messehallen. An vielen Ständen der offiziell 2500 Aussteller herrscht gähnende Leere, das Interesse am Partnerland Portugal ist mäßig und selbst bei den Vorträgen bilden sich nur bestenfalls kleine Menschentrauben. Dass insbesondere China kaum an der Hannover-Messe teilnimmt, ist deutlich spürbar. Aber dass die Industrieschau nach der unfreiwilligen Corona-Pause einen Fehlstart hinlegt, kann man allerdings nicht sagen. Was die Besucher auf dem hannoverschen Messegelände geboten bekommen, kann sich durchaus sehen lassen. Mit den Themen Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Automatisierung und Digitalisierung trifft die Ausstellung den Nerv der Zeit.
Das Abflauen der Corona-Pandemie kommt allerdings nicht nur auf der Hannover-Messe nicht so richtig an. Auch die Stimmung in der Wirtschaft ist weiterhin gedrückt. „Wir befinden uns in einem schwierigen, bedrückenden, unsicheren Umfeld“, sagt Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Er fordert mehr eigene Fertigung in Europa, ohne aber die Globalisierung abzuwürgen. „Ohne Rohstoffe keine Industrie 4.0 und keine E-Mobilität“, betont Russwurm.
Und auch Christian Vietmeyer, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Zuliefererindustrie (ArGeZ) sagt: „Die aktuelle Preisrallye auf den Rohstoffmärkten ist zum großen Teil eine Folge der europäischen Abhängigkeit von Russland und China.“ Der Zuliefererverband fordert deswegen, die gesamte Wertschöpfungskette in Europa anzusiedeln. „Das Wirtschaftsministerium muss eine aktivere Wirtschaftspolitik machen“, sagt auch ArGeZ-Geschäftsführer Michael Weigelt. Das Ziel müsse es sein, die Lieferketten resilient zu machen.
Einer der ArGeZ-Zuliefererbetriebe ist die Hubert Stüken GmbH aus Rinteln. Das Familienunternehmen produziert Tiefziehteile, Stanzen und Stanzbiegeteile für Automobile, Medizin, Haustechnik oder Sanitär. Zu den größten Kunden gehören etwa Bosch oder Continental. Von den weltweit 1300 Beschäftigten arbeiten rund 900 in Niedersachsen, produziert wird aber auch in den USA, Tschechien und Shanghai. „Wir haben inzwischen mit sehr vielen Kunden Sicherheitsbestände vereinbart. Man merkt die Angst vor Lieferengpässen“, verrät Sina Gerber am Stüken-Stand auf der Hannover-Messe.
Der Rintelner Firma spielt dabei in die Karten, dass sie unabhängig von der Corona-Pandemie ein neues vollautomatisiertes Lager am Stammsitz gebaut hat. Der Bau einer neuen Produktionshalle in China macht sich dagegen derzeit nur bedingt bezahlt: Viele Waren hängen dort im Hafen fest und können nicht verschifft werden. „Es gibt immer noch einen sehr starken Rückstau“, weiß Gerber, die im Marketing und in der Disposition arbeitet.
Auch die Stüken GmbH hat in diesem Jahr etwas länger über den Auftritt bei der Hannover-Messe nachgedacht. Schließlich hat das Unternehmen aber mit gewohnter Standgröße an der Industrieschau teilgenommen. „Endlich können wir wieder die Kunden treffen. Es geht auch viel ums Sehen und Gesehen werden“, sagt Gerber. Schon bei der schnellen Anreise zum Messegelände habe sie jedoch geahnt, dass das Besucheraufkommen in diesem Jahr geringer ausfallen wird. Trotzdem habe sie bis zum Montagnachmittag schon viele interessante Gespräche am Stüken-Stand geführt. „Sobald wir einen Neukunden haben, hat sich die Messe für uns schon gelohnt“, sagt Gerber. Und auch an anderen Messeständen gilt die Devise: Qualität über Quantität.
Neben den Lieferengpässen ist auch der Klimawandel auf der Industrieschau allgegenwärtig. Wasserstoff ist ein Riesenthema auf der Hannover-Messe, aber auch das Wetter. Selbst Olaf Scholz ist ganz fasziniert vom digitalen Globus des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), der den Klimawandel auf der Welt deutlich macht. KIT-Professor Michael Kunz erklärt, warum das Vermessen des Klimas so wichtig ist. „Klima ist eine statistische Größe“, sagt der Meteorologe in seinem Vortrag „Naturkatastrophen können uns alle treffen“.
Als größte Gefahr des Klimawandels sieht er die Häufung von Extremereignissen, die wiederum durch den Temperaturanstieg verursacht wird. Mit jedem Grad Celsius steige auch der Wasserdampf-Anteil in der Luft um 7 Prozent. „Mehr Wasserdampf heißt mehr Niederschlag. Und Wasserdampf ist gleich Energie, das heißt, es ist mehr Energie in der Atmosphäre vorhanden“, erläutert der Experte für Risikoberechnung und stellt klar, dass auch Deutschland vom Klimawandel stark betroffen ist: „Wir haben den stärksten Zuwachs des Klimarisikos in ganz Europa und weltweit rangieren wir auf Platz 18.“
Für Prof. Kunz steht fest: „Wir müssen das Risiko besser verstehen.“ Eine Hochwasserkatastrophe wie im Ahrtal 2021 könne auch anderswo passieren. „Jede Region kann von diesen Starkregenereignissen mit mehr oder weniger der gleichen Wahrscheinlichkeit getroffen werden“, sagt der Meteorologe und fordert mehr Information. „Unsere Kinder wissen nicht, was im Katastrophenfall zu tun ist“, bemängelt Kunz und wünscht sich Katastrophen-Training auch im Unterricht und im Studium. Bei der Katastrophe im Ahrtal hätten viele der 180 Todesfälle durch mehr Aufklärung verhindert werden können, ist sich der Experte sicher.
„Der Keller ist eine tödliche Falle. Dort liegen Stromkabel und die Türen gehen in der Regel nach außen auf. Und allein dieses Wissen, könnte schon Menschenleben retten“, sagt Kunz, der drei Warn-Apps auf seinem Smartphone installiert hat, beim bundesweiten Warntag 2021 aber trotzdem keine einzige Meldung bekam. Der Sprecher des Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology (CEDIM) sagt deswegen ganz klar: „Wir müssen dringend die Sirenen wiederbeleben. Das erste, was bei einer Katastrophe ausfällt, ist das Handynetz.“
Eine digitale Lösung hat Kunz auf der Hannover-Messe aber natürlich auch im Angebot: Das KIT präsentiert in der niedersächsischen Landeshauptstadt unter anderem auch den „Risk Layer“, mit dem Gefährdungs- und Risikostatistiken ausgewertet werden können. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Cybersecurity, die auf der Hannover-Messe ebenfalls bei vielen Ausstellern im Fokus steht. Trotz aller Abstriche ist und bleibt die Industrieschau eben doch die größte und vielseitigste ihrer Art.
Dieser Artikel erschien am 31.05.2022 in der Ausgabe #101.
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