Die Stichwahl zur Bestimmung des Landrats von Hameln-Pyrmont war am 5. April 2020 eine historische Angelegenheit: Kurz zuvor war die Corona-Pandemie ausgebrochen, aber eine Verschiebung der Wahl schien nicht mehr möglich zu sein – denn der erste Wahlgang war ja bereits gelaufen.

War die Stichwahl im Kreis Hameln-Pyrmont ungültig? Darüber musste das Verwaltungsgericht Hannover entscheiden – Foto: GettyImages/no-limit_picture

Am gestrigen Donnerstag nun musste das Verwaltungsgericht Hannover über die Frage entscheiden, ob die Stichwahl ungültig war – und der Wahlsieger, Landrat Dirk Adomat (SPD), sein Amt verlieren müsste. Es war nämlich von der Kreisverwaltung eine verpflichtende Briefwahl angeordnet worden, obwohl es eine entsprechende gesetzliche Grundlage im Kommunalwahlrecht dafür noch gar nicht gegeben hatte.

Doch die erste Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover, vertreten vom Vorsitzenden Richter Sven-Marcus Süllow, klammerte die Antwort auf die Frage aus: „Wenn es einen Wahlfehler gegeben haben sollte, wäre dieser jedenfalls nach unserer Einschätzung unvermeidbar gewesen“, betonte er. Die Klage des Bürgers Bernard Heyen aus Hessisch Oldendorf wurde abgewiesen, Adomat kann Landrat bleiben. Auswirkungen auf die Zukunft, betonte der Richter, habe das alles wohl nicht. Inzwischen nämlich sieht das Kommunalwahlrecht in Niedersachsen Sonderregeln für den Fall einer Pandemie vor.

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Tatsächlich berührt der Rechtsstreit, der am Donnerstag in einer vierstündigen, per Video-Zuschaltungen laufenden Verhandlung ausgetragen wurde, ein grundsätzliches Thema: Darf man die Wähler verpflichten, ihre Stimme per Briefwahl abzugeben? In der Bundesrepublik war bis zu Beginn der Corona-Krise die Briefwahl immer nur als Möglichkeit für die Wähler vorgesehen worden, nicht aber als verpflichtender Weg für alle, die wählen wollen. Heyen knüpfte mit seiner Klage, die vom Hamelner Rechtsanwalt Jörn Hülsemann vertreten wurde, daran an. Viele Wähler seien skeptisch gegenüber der Briefwahl, da die Wahl dann oft nicht geheim oder ohne Einflussnahme von Verwandten oder Mitbewohnern ablaufen könne. Es gebe zudem geschätzt 12 Prozent Menschen, die das Briefwahlsystem schwer verstehen, und 25 Prozent Spontanwähler, die sonst erst Sonntagnachmittag ins Wahllokal um die Ecke gegangen wären.

Beide sei durch die Umstände eine Wahlteilnahme erschwert worden – und bei einem Stimmunterschied von 1226 Stimmen zwischen Adomat und dem unterlegenen Grünen-Bewerber Torsten Schulte könnten diese Zahlen relevant gewesen sein, meinte der Kläger. Erschwerend komme hinzu, dass die Hamelner Kreisverwaltung die Bitte von Landeswahlleiterin Ulrike Sachs, wenigstens einige „Not-Wahllokale“ für jene einzurichten, die nicht per Brief wählen wollen, ausgeschlagen hatte. Richter Süllow hielt dennoch diese Argumentation nicht für überzeugend. Für eine Wahlanfechtung reiche eine abstrakte theoretische Möglichkeit der Wahlverfälschung wegen der Zwangs-Briefwahl nicht aus, man müsse eine konkrete Beeinflussung belegen. Doch diese sei schwer zu begründen, denn niemand könne behaupten, dass in der Briefwahl besonders viele Wähler die SPD-Bewerber ankreuzen oder dass Spontanwähler, die abgeschreckt gewesen sein könnten, bevorzugt für den Grünen-Bewerber gestimmt hätten.

Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage vermutlich nicht ausreichend

Immerhin in einem Punkt neigte das Gericht dem Kläger erkennbar zu: Das Bundesinfektionsschutzgesetz sei als Rechtsgrundlage für die Aufstellung von Bedingungen für die Landrat-Stichwahl vermutlich nicht ausreichend gewesen. Wahlen als „Veranstaltungen“ zu titulieren, die im April 2020 laut diesem Gesetz auf Anordnung der Gesundheitsbehörde verschoben werden durften, sei eine fragwürdige Argumentation. Die Generalklausel dieses Gesetzes greife wohl auch deshalb nicht, weil seine späteren, durch den Bundestag beschlossenen Spezifizierungen das Thema Wahlen gar nicht berührten – was darauf hindeute, dass Wahlen eben ein eigenes, besonders schützenswertes Rechtsgebiet seien.

Man könne den Notstand der Corona-Lage zitieren, sagte Richter Süllow.  Er bezeichnet das mit dem vor Jahren vom Bundesverfassungsgericht geprägten Begriff der „Chaos-Theorie“: „Man wählt einen offensichtlich rechtlich bedenklichen Weg nur deshalb, weil man ohne diesen Weg in eine noch stärker verfassungswidrige Situation kommen könnte.“ Mit anderen Worten: Ohne die Zwangs-Briefwahl hätte die Wahl ausfallen müssen oder sie wäre mit dem Risiko einer hohen Ansteckungsgefahr verbunden gewesen. Beides wäre schlimmer gewesen als das, was geschehen war. Aber kann diese „Chaos-Theorie“ hier gelten? Süllow meint, das Wahlprüfverfahren sei damit vermutlich überfordert.

Am Ende der Verhandlung scheiterte noch ein Vergleichsversuch, so fiel das Urteil wenig später: Heyens Klage wird abgewiesen, er muss die Kosten des Verfahrens tragen. Das ungute Gefühl aber, dass der Hamelner Weg mit vielen ungewollten Nebenwirkungen verbunden war, bleibt bestehen.