Grünen-Krise im Bund trifft Partei und Fraktion in Niedersachsen doppelt hart und heftig
Als am Mittwoch die Grünen-Parteiführung in Berlin ihren Rücktritt ankündigte, war das wie ein Schock für die 24 Grünen-Abgeordneten im Landtag in Hannover während der gleichzeitig tagenden Plenarsitzung. Es hatte zuvor keine Information oder wenigstens vage Vorwarnung gegeben, heißt es. Die Grünen-Landesvorsitzende Greta Garlichs beeilte sich Stunden später, der scheidenden Parteispitze um Ricarda Lang und Omid Nouripour ihren Dank auszusprechen – und sie erwähnte auch das Wort „Strategiewechsel“, ohne jedoch ihre Meinung näher zu erklären. Der nächste Schock kam am Abend des Tages, als die Führung des Bundesverbandes der Grünen Jugend nicht nur den Rückzug verkündete, sondern gleichzeitig den Parteiaustritt ankündigte. Die GJ-Sprecherinnen, darunter die Niedersächsin Svenja Appuhn, zeigten sich resigniert: „Wir gehen nicht davon aus, dass die inhaltliche und strategische Neuausrichtung der Grünen in unserem Sinne laufen wird.“ Die GJ-Führung meinte noch, sie erwarte „mittelfristig keine Mehrheiten für eine klassenorientierte Politik“. Dieses marxistische Vokabular zeigt an, dass die GJ ihren stramm linken Kurs gefährdet sieht und deshalb das Weite sucht.
Die Nachwirkungen können erheblich sein. Die Grüne Jugend mit ihrer linken Ausrichtung ist seit vielen Jahren die Kaderschmiede gerade der Grünen in Niedersachsen. Julia Hamburg, die Vize-Ministerpräsidentin, hat ihren Weg in die Politik als GJ-Landesvorsitzende begonnen. Mehrere Landtagsabgeordnete sind von der GJ geprägt worden, und der frühere GJ-Bundessprecher Timon Dzienus hat erst vor wenigen Tagen angekündigt, in einem hannoverschen Wahlkreis für den Bundestag kandidieren zu wollen. Dass er nach der neuen Entwicklung verzichtet und aus Solidarität mit der alten GJ-Führung die Grünen verlässt, gilt als unwahrscheinlich. In sozialen Netzwerken hat er immerhin gestern ein Loblied auf die GJ gesungen und von nötigen großen Veränderungen gesprochen.
Auf Grünen-Landesparteitagen sind die linken Kräfte seit vielen Jahren dominant, Beobachter schreiben ihnen eine Stärke von bis zu 70 Prozent der Delegierten zu. Das unterscheide die Niedersachsen-Grünen stark von anderen Landesverbänden, in denen die Verhältnisse anders seien. Die „Realos“ haben sich in Niedersachsen seit Jahren in der Minderheitenrolle eingerichtet – in der 24-köpfigen Landtagsfraktion werden nur vier Abgeordnete bei dieser Richtung verortet, in der Landesregierung ist es allein Finanzminister Gerald Heere. Wenn künftig nun die GJ als wesentliche Stütze der Linken auf den Grünen-Landesparteitagen fehlt oder geschwächt ist, wird das vermutlich die Machtverhältnisse in der Partei stören, aber nicht wirklich erschüttern. Gerade das Thema Migration gab der Grünen-Führung im Landesverband oder den Vertretern der Linken in Bundestag und Landtag bisher stets Anlass, sich öffentlich und lautstark als Verteidiger des Asylrechts und Gegner jeglicher Einschränkung zu profilieren. Als die Realo-Landtagsabgeordnete Sina Beckmann 2023 für „mehr Realismus“ in der Zuwanderung warb, erntete sie sofort Widerspruch von ihrer Fraktionsführung. Inzwischen hat sich in der Bundespolitik die Debattenlage – auch bei den Grünen – zugunsten von Beckmanns Haltung gewandelt. Damit geraten die Linken zunehmend in die Defensive. Dazu passt, dass am Donnerstag auch die beiden Sprecher der Grünen Jugend in Niedersachsen, Rukia Soubbotina und David Christner, ihre Ämter niederlegten.
Nach dem Rücktritt von Omid Nouripour und der gerade bei der GJ beliebten Ricarda Lang am Mittwoch ist die Frage der Neuausrichtung der Grünen noch offen. Die Hypothese, dass Robert Habeck und die Realos ihre Position ausbauen könnten, kursiert zwar, ist aber noch nicht belegt. Eine solche Entwicklung hätte wohl zur Folge, dass der von den Vertretern der Linken geprägte Grünen-Landesverband auf Bundesebene seine jetzt schon schwache Position kaum verstärken kann. Hinter den Kulissen werden daher viele Gespräche geführt mit dem Ziel, die Linken in der künftigen Grünen-Bundesführung möglichst stark zu verankern. Zum Schwure kommt es bei der Neuwahl beim Bundesparteitag im November.
Dieser Artikel erschien am 27.09.2024 in der Ausgabe #169.
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