Minus 110 Grad: Niedersachsen zittern in der Kältekammer
Vor wenigen Tagen erst gingen Videos von Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton um die Welt, in denen er bei minus 98,6 Grad Celsius nur mit Boxershorts und Winteraccessoires bekleidet in einer Kältekammer in Monte Carlo hin und her tänzelt. „Training ist essentiell, aber Erholung und sich um seinen Körper kümmern sind es noch viel mehr“, kommentierte der Brite dazu auf Instagram. Spitzensportler und Hollywoodstars gehen in solchen Eisboxen ein uns aus. Aber auch der Normalbürger können ziemlich einfach in den Genuss einer Kryotherapie kommen. Im Rehazentrum Bad Eilsen (Landkreis Schaumburg) ist das nicht einmal teuer.
Am Donnerstag hat die Kurklinik der Rentenversicherung Braunschweig-Hannover ihre neue Kältekammer offiziell vorgestellt. In dem hoch modernen Drei-Kammer-System können sich die Patienten noch besser an die Extremtemperatur gewöhnen als in dem Vorgängermodell, das nur zwei Räume hatte. In der ersten Kammer zeigt das Thermometer noch minus zehn Grad Celsius. Hier können sich die Besucher, die nur Badebekleidung tragen, erst einmal langsam an den Frost gewöhnen. Hände, Füße und Ohren sind ebenfalls geschützt. Und damit die feuchte Atemluft nicht die Schleimhäute in Mund und Nase schädigt, trägt hier jeder unabhängig von der Corona-Pandemie eine Maske. Die zweite Kammer ist neu. Sie ist auf minus 60 Grad eingestellt und soll den Temperatursturz zur letzten Station abfedern, denn dort beträgt die Umgebungstemperatur nur noch minus 110 Grad Celsius.
„Schon nach dem ersten, spätestens beim zweiten Mal merkt man, dass man gelenkiger wird“, sagt Ilse Spiller. Die 66 Jahre alte Rheumapatientin kommt schon seit 2005 regelmäßig zur Kältetherapie nach Bad Eilsen. „Die Behandlung ist top, das ist genau meins“, sagt sie. Drei Wochen lang wird sie in ihrer Reha täglich (bis auf sonntags) zweimal für drei Minuten in die Kältekammer geschickt wird. „Danach geht es mir zwei Jahre gut, aber dann muss ich mich wieder quälen“, sagt Spiller. „Es ist ganz toll. Ich fühle mich wohler, schmerzfreier und gelenkiger“, schwärmt auch Sybille Elisabeth Höfner von der Kältekammer. Auch die 62-jährige Fahrdienstleisterin hat festgestellt, dass ihre Entzündungen schon nach dem ersten Kältekammerbesuch nachgelassen haben. Richard Melzer ist dagegen noch etwas skeptisch. „Das erste Mal war echt gewöhnungsbedürftig“, sagt der 33-Jährige und lacht. „Es ist nicht mein Lieblingstermin, ich gehe lieber zur Massage“, gibt er zu. Trotzdem ist er froh, dass ihm sein Arzt die ihm zuvor unbekannte Therapieform verordnet hat. „Ich habe schon den Eindruck, dass es hilft. Ich fühle mich danach beweglicher.“
Über eine Gegensprechanlage und Fenster können Patienten und Therapeuten während der Behandlung in Kontakt bleiben. Wem es zu kalt wird, kann jederzeit abbrechen. „Bewegen sie sich ein bisschen hin und her, ganz so wie sie es vertragen“, empfiehlt Therapeutin Heike Dehne vorm Betreten der Kältekammer. Seit rund 20 Jahren betreut sie die Kältekammern in Bad Eilsen, die mittlerweile selbst bei Tagestouristen beliebt sind. Zweimal drei Minuten Cryotherapie sind mit 15,50 Euro auch noch verhältnismäßig günstig. „Manche kommen zur Behandlung, setzen sich dann zwei Stunden ins Café und gehen dann wieder in die Kältekammer. Andere haben auch Urlaub und sind eine ganze Woche hier“, weiß Dehne und ergänzt: „Die sind dann drei, bis vier Monate schmerzfrei und dann kommen sie wieder.“
Kältetherapie ist nicht nur gegen Schmerzen wirksam
Glaubt man den privaten Gesundheitszentren, die die Gänsehaut-Therapie mittlerweile in vielen Städten bereits als Fitnesstrend und Wundermittel vermarkten, wirkt die Kryotherapie gegen Stress, Rheuma, Migräne, Depressionen, Akne und Falten sowie Schlafprobleme. Darüber hinaus steigert das allgemeine Wohlbefinden, stärkt das Immunsystem und hilft beim Abnehmen. Rheumatologe Uwe Polnau, Ärztlicher Direktor im Rehazentrum Bad Eilsen, sieht das etwas differenzierter – gibt den Betreibern aber im Prinzip recht. „Der Wirkmechanismus ist zwar noch nicht in allen Einzelheiten geklärt, fest steht aber, dass der intensive Kältereiz auf der Haut zahlreiche körpereigene Botenstoffe freisetzt, die entzündungshemmend und schmerzlindernd wirken“, sagt der Experte und erläutert: „Der Effekt beruht darauf, dass bei diesen niedrigen Temperaturen die Schmerzen von der Temperaturwahrnehmung überlagert werden. Im zentralen Nervensystem ist die Schmerzwahrnehmung dann nicht mehr so stark.“
Dass man der Kältekammer keine Wunder zuschreiben sollte, zeigte das Formel-1-Rennen in Austin am vergangenen Sonntag. Obwohl der „Circuit of the Americas“ zu Hamiltons stärksten Strecken gehört, kam der 36-Jährige hinter Max Verstappen nur als zweiter ins Ziel. Allerdings ist auch vom Niederländer bekannt, dass er regelmäßig bei hohen Minusgraden in der Eisbox bibbert. Ein Foto auf seinem Twitter-Kanal zeigt Verstappen sogar bei 140 Grad minus. Hätte vielleicht auch Hamilton die Temperatur noch ein bisschen niedriger drehen sollen? „Da stößt man irgendwann an die Grenzen dessen, was der Körper verträgt“, sagt Dr. Polnau. Er rät auch dazu, nicht länger als drei Minuten in einer Kältekammer zu verweilen. „Ein bis zwei Minuten haben auch schon eine Wirkung und je länger Sie drinbleiben, umso mehr Probleme kann der Körper dadurch bekommen.“
„Die Kältetherapie ist immer nur eine ergänzende Therapie und niemals die einzige“, sagt Polnau. Üblicherweise sei die Ganzkörperbehandlung bei Krankheitsbildern wie Polyarthritiden, entzündlichen Wirbelsäulenerkrankungen, Beschwerden des Bewegungsapparates sowie bei allen chronischen Schmerzsyndromen hilfreich. Selbst bei Lungenerkrankungen und Migräne sei das Verfahren sinnvoll. Die Behandlung erspare Betroffenen oftmals Schmerzmedikamente oder Cortison – und das über mehrere Monate. „Der Effekt hält nach einer Behandlungsserie bis zu mehreren Monaten an. Aufgrund dieser Effekte werden Kältekammern auch im Leistungssport genutzt zur Verbesserung der Regeneration“, sagt Polnau. Die medizinische Wirksamkeit sei in mehreren Studien nachgewiesen worden.
Rund 270.000 Euro hat die Rentenversicherung in ihre neue Kältekammer investiert. Laut Geschäftsführer Jan Miede lohnt sich das nicht nur fürs Rehazentrum, sondern ist auch für die Gesellschaft lukrativ. „Mit der neuen Kältekammer bieten wir Betroffenen eine erfolgversprechende und zugleich schonende Therapie für einen möglichst schmerzfreien Neustart im Berufsleben“, sagt Miede und ergänzt: „Das Ziel ist es, dass die Patienten in ihrem Beruf weiterarbeiten können.“ Nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft leidet sogar mehr als jeder mehr als jeder vierte Erwachsene in Deutschland an chronischen Schmerzen. Die jährlichen Kosten für das Gesundheitssystem schätzt die Schmerzgesellschaft auf 38 Milliarden Euro – zwei Drittel davon würden für Arbeitsausfall und Frühberentung anfallen.
Keine Regelleistung der Krankenkasse: Bislang ist die Kältetherapie keine von den gesetzlichen Krankenkassen unterstützte Leistung. Wer einen entsprechenden Antrag stellt, kann aber trotzdem auf eine Kostenübernahme hoffen. „Die AOK beispielsweise übernimmt nach Einzelfallprüfung die Behandlungskosten, wenn von einem Arzt im Rahmen als Heilmittel einer physikalischen Therapie bestimmte Kälte- oder Wärmetherapien verordnet werden“, teilt die Krankenkasse mit. Polnau hätte gerne, dass sich das ändert. „Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, wenn die Kältetherapie im Heilmittelkatalog enthalten wäre“, sagt der Mediziner. Zunächst würden davon zwar vor allem die Menschen in der Nähe einer bereits vorhandenen Kältekammer profitieren. Auf Dauer würde sich dann aber für noch mehr medizinische Einrichtungen die Investition in eine solche Eisbox lohnen.
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