Gesche Joost: „Im Bereich der digitalen Bildung ist Deutschland nicht gut aufgestellt“
Die Design-Professorin Gesche Joost ist Internetbotschafterin der Bundesregierung. Bei der Kabinettsklausur gestern in Hildesheim hielt sie ein Referat über digitale Herausforderungen. Mit Gesche Joost sprach Martin Brüning.
Rundblick: Frau Joost, auf der Tagesordnung standen in Hildesheim „Chancen und Risiken“ der Digitalisierung – wo liegen denn die Chancen?
Joost: Es gibt viele Chancen in Niedersachsen. Eines der Fokusthemen ist die Energiewende mit der Kernfrage: Wie können wir durch intelligente Netze die Energiewende steuern und voranbringen? Da ist Niedersachsen hervorragend aufgestellt. Gleichzeitig gibt es mittelständische Logistik-Unternehmen, die von der Digitalisierung stark profitieren können. Sie können zum Beispiel durch kleine Funk-Chips in den Containern Logistikprozesse optimieren. Auch im Bereich der Gesundheitstechnologie mit der entsprechenden Vernetzung bietet für Niedersachsen große Möglichkeiten.
Rundblick: Und wo liegen die Risiken?
Joost: Die Risiken sind weniger landesspezifisch, sie betreffen alle Länder. So gibt es zum Beispiel eine große Debatte um Datenschutz und Cyber-Security. Und es existiert eine große digitale Spaltung. Viele haben die Befürchtung, nicht mehr mit im Boot zu sein. Das reflektiert sich zum Beispiel in der Medienberichterstattung darüber, wie viele Arbeitsplätze wegfallen könnten. Wir müssen genau schauen, welche Probleme wir gemeinschaftlich angehen müssen. Die Debatte um Arbeitsplätze halte ich für etwas überhitzt, um es vorsichtig zu formulieren. Gleichzeitig haben wir aber sehr reale Probleme, zum Beispiel Hasskommentare oder Daten, die zu freigiebig im Netz geteilt werden. Da wären Bildungsansätze sehr wichtig, zum Beispiel bereits in der Schule Datenkompetenz zu vermitteln und die digitalen Kompetenzen zu erweitern. Man kann nicht nur youtube-Videos anschauen, sondern man hat Gestaltungsmöglichkeiten. Dieses Wissen würde auch der digitalen Spaltung entgegenwirken.
https://soundcloud.com/user-385595761/interview-mit-internetbotschafterin-gesche-joost
Rundblick: Wenn man sich viele Schulen ansieht, dann sieht man allerdings eher noch das analoge Zeitalter. Gibt es da noch Nachholbedarf?
Joost: Gerade im Bereich der digitalen Bildung ist Deutschland nicht gut aufgestellt. Die europäischen Nachbarländer haben in den vergangenen Jahren stark aufgerüstet. In England wurde letztes Jahr flächendeckend das Programmieren eingeführt und jeder Siebtklässler hat einen Minicomputer bekommen. In Deutschland ist Tabula rasa und das erschreckt mich. Wenn wir über den Fachkräftemangel diskutieren und sehen, wie rasant sich der digitale Wandel vollzieht, können wir nicht warten, bis wir alle Lehrer weiterqualifiziert haben. Wir müssen heute anfangen.
Rundblick: Aber wie fangen wir an? Es reicht ja nicht, jedem Schüler einfach ein Tablet in die Hand zu drücken…
Joost: Wir haben nach der Initiative in England mit einer gemeinnützigen Initiative nachts im Keller einen kleinen Minicomputer gelötet. Der „Calliope Mini“ kostet in der Produktion zehn Euro und man kann ohne viel Infrastruktur gleich loslegen. Und er soll in einem Pilotprojekt im Saarland ab der dritten Klasse eingesetzt werden. Er wird gratis an die Drittklässler gegeben und die Lehrer werden gleichzeitig fortgebildet.
Rundblick: Vielleicht hängt unser abwartendes Verhalten ja auch mit zu starken Zweifeln zusammen. Sind wir gerade in Deutschland manchmal zu pessimistisch gegenüber den Chancen der Digitalisierung?
Joost: Ja, auf jeden Fall. In den USA im Silicon Valley werden selbst kleine Neuerungen oftmals riesig verkauft. Darin sind gerade wir Norddeutschen nicht so gut – wenn man nicht gemeckert hat, dann ist das schon genug des Lobes. Das müssen wir ändern, einerseits experimentierfreudiger werden und andererseits das Positive der Digitalisierung sehen. Wir sprechen gerne über Misserfolge und über die Ängste. Wir müssen mehr die Erfolgsgeschichten erzählen.
Rundblick: Der regionale Standort spielt bei der Digitalisierung ja eine immer kleinere Rolle. Gibt es dadurch gerade für Regionen wie zum Beispiel Südniedersachsen, die mit dem demographischen Wandel zu kämpfen haben, neue Chancen?
Joost: Ich glaube schon. Grundvoraussetzung ist der Breitbandausbau, man braucht den Zugang zu schnellem Internet. Es gibt das Beispiel eines kleinen Dörfchens in Irland, das nach dem Einrichten einer schnellen Internetverbindung mit einem Start up-Netzwerk viele Menschen angezogen hat, die von dort aus über das Internet dezentral mit anderen zusammengearbeitet haben. Die Strukturen sind sehr dezentral geworden. Es ist eine Chance, dass man über den Netzwerkcharakter von jedem Ort aus Zugang zu Innovationen hat.
Rundblick: Jetzt haben wir unter anderem über die Schulen gesprochen –wie fit sind denn die Unternehmen für die digitale Zukunft?
Joost: Da ist das Bild sehr unterschiedlich. Die großen Unternehmen haben das natürlich begriffen. Viele Mittelständler haben aber noch große Probleme damit. Einige denken auch noch, Digitalisierung bedeute, dass man einmal den Rechner updaten muss. Das ist dann wirklich noch digitale Steinzeit. Andere müssen noch überzeugt werden, dass die Geschäftsmodelle tragfähig sind. Das ist der Knackpunkt. Im Silicon Valley sieht man Unternehmen, die nach der Gründung noch keine Ahnung haben, wie sie Geld verdienen wollen. Die probieren erst einmal aus. Auch hier müssen wir experimentierfreudiger werden und Experimentierräume schaffen. Diese Hürde führt dazu, dass die Digitalisierung für die Mittelständler teilweise langsam vorangeht.
Rundblick: Die Politik redet gerne davon, die Wirtschaft „mitnehmen“ zu müssen, die Verbände wollen wiederum die Politik „mitnehmen“ – passiert die Digitalisierung nicht ohnehin, ohne dass irgendjemand einen anderen mitnimmt?
Joost: Das fände ich schlimm. Ich habe den Eindruck, dass die Digitalisierung besonders von großen internationalen Konzernen vorangetrieben wird und dass wir dann vor Fakten stehen, die wir so vielleicht nicht wollten oder auch nicht antizipiert haben. Insofern ist es auch aus politisch sehr wichtig, Zukunftsszenarien zu entwickeln und eine positive Version einer digitalen Gesellschaft definieren. Wir müssen nicht die Innovationen durch die Politik vorantreiben, aber wir brauchen eine Richtungsahnung, um Förder- und Rahmenbedingungen entsprechend anpassen zu können.