Geflohen vor Putins Bomben: Wie Olha und ihre Familie ihre Heimat verlassen mussten
Vor wenigen Wochen noch schien für Olha und ihre Familie die Welt in Ordnung zu sein. Die 36-jährige arbeitete als Englischlehrerin in Kropywnyzkyj (Kirovohrad), rund 300 Kilometer südöstlich von Kiew, einer Stadt, die in etwa die geographische Mitte der Ukraine markiert. In der 230.000-Einwohner-Metropole lebte sie mit ihrem Lebensgefährten Khalid. Der Sudanese verließ 2013 seine Heimat und wanderte in die Ukraine ein, er floh vor dem Bürgerkrieg im Sudan. Die beiden sind seit knapp fünf Jahren liiert, im vergangenen September kam die gemeinsame Tochter Sara zur Welt. Aus einer früheren Ehe hat Olha noch eine ältere Tochter, die 8-jährige Arina. „Wir sind eigentlich eine ziemlich normale, durchschnittliche ukrainische Patchwork-Familie“, erzählt Olha.
Eine Familie, zu der auch die Labrador-Hündin „Marti“ und Katze „Tribeka“ gehören. Auf Familienfotos dürfen diese selbstverständlich nicht fehlen, obwohl die beiden Tiere ein eher distanziertes Verhältnis zueinander pflegen. Zweitklässlerin Arina ist eine begabte Kunstturnerin, sie ging in der Ukraine an sechs Tagen pro Woche begeistert zum Training und feilte auch zu Hause an ihren artistischen Fähigkeiten – ein Spagat ist für das Mädchen lediglich eine lockere Aufwärmübung. Gern würde sie später als Fotomodell arbeiten.
Doch all das war einmal. Durch den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wurde das normale, unaufgeregte Leben der Familie unerwartet vor eine harte Bewährungsprobe gestellt. Plötzlich ging es für sie um Leben und Tod, um ganz wesentliche Dinge wie den Schutz vor den mörderischen Bomben, die seit nunmehr sechs Wochen auf die gesamte Ukraine niederprasseln. Mit der Normalität ihres Alltags ist es seit dem 24. Februar endgültig vorbei – seit dem Tag, an dem russische Truppen in die Ukraine einmarschierten. „Wir haben geschlafen, als mitten in der Nacht mein früherer Mann anrief und entsetzt sagte, wir sollen sofort alle Sachen packen und das Land verlassen. Es war furchtbar.“ Zu diesem Zeitpunkt befand sich ihr Lebensgefährte Khalid in Kiew, die 36-jährige und ihre Mutter Natalia (63) waren mit den beiden Kindern allein zu Hause.
„Wir hatten keine andere Wahl: Wir mussten flüchten“
„In der Nähe unseres Wohnortes befindet sich ein Militärflughafen. Nachts wurden die Flugzeuge abgezogen, um sie vor russischen Angriffen zu schützen. Sie flogen sehr niedrig über unser Haus, alles wackelte, wir zitterten vor Angst, die Kinder weinten.“ Plötzlich war die Familie inmitten eines Krieges. „Ich hatte Angst, dass unser Haus von den Russen attackiert werden könnte. Ich dachte nur an das Leben meiner Kinder.“ Weil es in ihrem Haus keine fensterlosen Räume gibt, wickelte Olha ihre Töchter in Decken ein, um sie vor möglichen Bombensplittern zu schützen. Am Abend des 25. Februars fassten sie dann den Entschluss: Sie werden die Ukraine – ihre Heimat, das Geburtsland ihrer Kinder – verlassen müssen. „Ich dachte nur an meine Töchter. Wenn sie nicht wären, hätte ich mit allen Mitteln für mein Land gekämpft. Aber meine Kinder kann ich nicht allein lassen. Wir hatten keine andere Wahl: Wir mussten flüchten.“
Ihr Lebensgefährte Khalid war mittlerweile aus Kiew zurückgekehrt. Trotz verordneter Ausgangssperre in Kropywnyzkyj packten sie die wichtigsten Dinge zusammen und fuhren los: Reisepässe, eine gelbe Isomatte, Futter für die Haustiere und Decken, um die Kinder vor der Kälte zu schützen – alles andere, ihre gesamte Existenz, ließen sie hinter sich mit der beißenden Ungewissheit, ob sie jemals wieder in ihr altes, „normales“, Leben zurückkehren könnten. Seine Familie aus der Ukraine rauszubringen war für den 33-jährigen Familienvater das Wichtigste: „Ich schwor mir: Selbst wenn ich dabei sterbe, ich bringe meine Familie in Sicherheit.“ Es folgte eine 55-stündige Auto-Odyssee in Richtung ukrainisch-polnischer Grenze. Ohne Schlaf. Ohne festes Ziel vor Augen.
Einige Menschen haben mit Filzstiften Namen und Telefonnummern von Verwandten auf die Rücken ihrer Kinder geschrieben, weil niemand wusste, ob die Familien es gemeinsam über die Grenze schaffen.
Schlange vor der polnischen Grenzen war kilometerlang
Die Reise in die erhoffte Sicherheit führte sie vorbei an durch Bomben zerstörten Lastwagen, Dutzenden Panzerblockaden und Hunderten ukrainischer Militärfahrzeuge – eine beklemmend unwirkliche Situation für die flüchtende Familie. „Die Schlange vor der Grenze war kilometerlang. Ich hatte Angst, dass die Russen bewusst hier angreifen und die Wartenden vor der Grenze bombardieren. Einige Menschen haben mit Filzstiften Namen und Telefonnummern von Verwandten auf die Rücken ihrer Kinder geschrieben, weil niemand wusste, ob die Familien es gemeinsam über die Grenze schaffen. Es ging nur im Schneckentempo voran und immer wieder waren Bombeneinschläge in der Ferne zu hören“, berichtet Olha.
Nach quälend langer Wartezeit durfte die Familie schließlich nach Polen einreisen. Im Gegensatz zu vielen ukrainischen Vätern konnte Khalid das Land aufgrund seiner sudanesischen Staatsangehörigkeit gemeinsam mit seiner Familie verlassen. Sie waren erschöpft, gezeichnet von den Strapazen zweier kalter Nächte. Vater Khalid hatte die vergangenen 55 Stunden am Steuer ihres kleinen Autos verbracht, Töchterchen Sara benötigte medizinische Versorgung. Die eisige Kälte hatte bei ihr einen Ausschlag verursacht, der behandelt werden musste. „Ich war so glücklich, als wir endlich hinter der Grenze waren. Die Menschen waren unglaublich hilfsbereit und haben uns mit allem versorgt, was wir brauchten. Windeln, frische Socken, warmes Essen, eine warme Dusche.“ Bleiben konnte die Familie jedoch nicht. Weil sie mit ihrem eigenen Fahrzeug reisen konnten, wurden sie nach einigen Tagen in Polen weitergeschickt, am 9. März kamen sie schließlich, nach einem kurzen Aufenthalt in einem Auffanglager in München, in ihrer neuen Heimat Hannover an.
Familie Scheffen stellt Wohnung, Freunde die Ausstattung
In der Landeshauptstadt wurde die ukrainische Familie bereits erwartet. Henning Scheffen und seine Familie hatten bereits während der Flucht über gemeinsame Bekannte Kontakt zu Olha und Khalid aufgenommen und sie nach Hannover gelotst. „Mein Vater ist vergangenes Jahr verstorben und seine Wohnung in der Südstadt stand leer. Am Familientisch waren wir uns sofort einig, dass wir Olha, Khalid, Natalia, Arina und Sara helfen wollen“, erzählt der freiberufliche Fotograf und Dreifachvater. Innerhalb kürzester Zeit organisierten Henning (51), Mirjam (50), Merle (23), Emma (19) und Pelle Scheffen (15) in ihren Freundes- und Bekanntenkreisen Betten, Schränke, Fahrräder und weiteres, um ihren Gästen aus der Ukraine eine gut ausgestattete Bleibe auf Zeit anzubieten.
Olha sitzt auf einem blauen Stoffsofa im Wohnzimmer, welches auf diesem Wege kurzfristig Einzug in die leerstehende Wohnung fand. Sie wirkt erstaunlich gefasst, beinahe bemerkenswert rational, während sie in nahezu perfektem Englisch von ihrer aufreibenden Flucht aus der Ukraine erzählt. Großmutter Natalia sitzt nebenan am Esstisch, hält ihre Enkelin Sara beschützend auf dem Arm. Aufmerksam scheint sie ihrer Tochter zuzuhören, obwohl die Rentnerin, die ihr Berufsleben in der ukrainischen Verwaltung verbrachte, gar kein Englisch versteht.
Offenherzigkeit der Deutschen überrascht Ukrainer
„Familie Scheffen hat uns das Leben gerettet. Bevor wir überhaupt eine Bitte aussprechen konnten, waren sie für uns da und haben uns bei allem unterstützt“, erzählt die Ukrainerin und ergänzt: „Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, wie viel wir Henning, seiner Frau Mirjam und ihren wunderbaren Kindern verdanken.“ Wenn sie über die Hilfsbereitschaft ihres hannöverschen „Herbergsvaters“ und seiner Familie spricht, klingt das gar nicht mehr so distanziert wie zuvor ihr Bericht über die Ereignisse in der Ukraine kurz vor und dann während der Flucht. Das Licht der Wandlampe reflektiert jetzt zunehmend in ihren hellblauen Augen, die spürbare Anspannung in ihr lässt allmählich nach, sie sucht den Blickkontakt zu ihrem neuen Familienfreund aus Hannover: „Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Deutschen so offenherzig und großzügig seid“.
Tochter Arina ist in den vergangenen Wochen bereits zur Schule in Hannover gegangen. „Sie kommt mit der Situation gut zurecht. Sie geht gerne zur Schule, hier in Deutschland ist es in den Schulen alles viel entspannter. Die Lehrer sind nicht so streng und die Schüler müssen keine Uniformen tragen“. Mit Arinas Lehrerin aus der Ukraine hält Olha über ihr Smartphone weiterhin Kontakt. Die Lehrerin schickt Arina Mathematik-Aufgaben und korrigiert diese aus der Ferne. In ihrer Freizeit erkundet die 8-jährige gemeinsam mit Mutter Olha ihre neue Heimat auf Fahrrädern oder bei Spaziergängen mit der Familienhündin.
Grausamkeiten des Krieges hinterlassen ihre Spuren
Die Erlebnisse der letzten Wochen gehen aber auch an dem lebenslustigen Mädchen nicht spurlos vorbei. In ihrem neuen Kinderzimmer hat sie sich unter der Wickelkommode einen Unterschlupf aus Decken gebaut, in dem sie sich regelmäßig versteckt – so wie sie sich in der ersten Kriegsnacht vor möglichen Bomben versteckte. Ihre Eltern bemühen sich, das Mädchen weitestgehend vom Kriegsgeschehen fernzuhalten. Mit ihren 8 Jahren saugt Arina dennoch alles auf, was um sie herum passiert und verarbeitet die Dinge auf ihre Weise. Ein von ihr gemaltes Bild zeigt eine weinende Frau mit herausgerissenem Herzen und eine Person, die durch einen Kopfschuss getötet wird. Es sind Grausamkeiten des Krieges, betrachtet und verarbeitet durch die Augen eines unschuldigen Kindes.
Auch zu Freunden und Bekannten hält Olha weiterhin engen Kontakt. Ihr früherer Mann und Vater ihrer Tochter darf das Land nicht verlassen. Er muss es an der Front verteidigen. Von ihm bekommt sie täglich Nachrichten. Besonders tief sitzen bei der Frau die Wunden der Bilder, welche am vergangenen Wochenende durch die Medien gingen und die geballte Grausamkeit des russischen Angriffskrieges zeigten – die Bilder aus dem Kiewer Vorort Butscha. „Ich habe es nicht für möglich gehalten, so ein grausames Massaker im 21. Jahrhundert in der Ukraine mitansehen zu müssen“, schildert sie kopfschüttelnd.
„Der Hass der Russen auf die Ukraine ist grenzenlos“
Den Krieg bezeichnet sie als „sinnloses Töten“, Wladimir Putin als „kranken Mann“, der aus nicht nachvollziehbarer Sehnsucht nach dem Wiederaufleben der zerfallenen Sowjetunion über Leichen gehe und dabei keinen Halt mache – auch nicht vor Kindern und Frauen. „Der Hass der Russen auf die Ukraine ist grenzenlos“, sagt die 36-jährige. „Ich habe einige Zeit meines Lebens in Russland verbracht. Vielerorts wird unsere Sprache, unsere Kultur und unsere pure Existenz als minderwertig abgestempelt“, erzählt sie und ergänzt um einen klaren Appell an Deutschland: „Ihr müsst schnellstmöglich unabhängig von Putins Russland werden. Russisches Gas ist der Schwachpunkt Deutschlands. Ihr habt schlaue Politiker und die besten Wissenschaftler. Es mag sein, dass der kommende Winter ohne russisches Gas kalt werden könnte, denkt aber daran: Vor dem nächsten Winter gibt es noch den ganzen Sommer.“
Eines Tages, so sagt sie zuversichtlich, möchte sie in ihre Heimat zurückkehren, „aber nur, wenn es dort sicher ist“. Wie lange sie in Deutschland bleiben wird, ist ungewiss. „Wir möchten keine Parasiten sein, wir wollen arbeiten, wir wollen etwas zurückgeben an die wunderbaren Menschen, die uns hier mit offenen Armen aufgenommen haben. Wir hatten riesiges Glück. Ich habe mich in Deutschland, in Hannover und in den Maschsee verliebt“, erzählt sie.
Deutsche Bürokratie ist eine große Herausforderung
Allerdings ist die Familie nach einem Monat in Deutschland noch immer weitestgehend auf die Unterstützung von Privatpersonen angewiesen. Sie sind zurzeit noch mittellos, lediglich Natalias Antrag auf Sozialleistungen ist kürzlich genehmigt worden, sodass die finanzielle Grundsicherung erst allmählich ankommt. Krankenversichert sind sie bislang ebenfalls nicht. Emma Scheffen (23) hat kostenlose ärztliche Behandlungen für Olhas Kinder organisieren müssen, weil die Anträge auf Krankenversicherung noch nicht bearbeitet waren.
Die deutsche Bürokratie ist eine große Herausforderung. „Es könnte alles etwas schneller und unkomplizierter sein“, sagt Olha mit Blick auf zahlreiche Formulare und Anträge, die ausschließlich in deutscher Sprache verfügbar sind. Hierbei sind Olha, Khalid und Natalia noch sehr auf die Hilfe der Familie Scheffen angewiesen. „Meine Tochter Merle hat zwei Tage die Uni geschwänzt und sich ausschließlich um die Anträge auf Sozialhilfe gekümmert. Es heißt, man wolle schnell und unkompliziert helfen. Davon sind wir aktuell noch weit entfernt. Die Erreichbarkeit von Ausländerbehörde und Sozialamt ist teils katastrophal“, kritisiert Henning Scheffen.
Die ukrainische Familie hat sich mittlerweile allen bürokratischen Hürden zum Trotz ganz gut in Hannover eingelebt. „Es gibt sehr viele Telegram-Gruppen, in denen wir Ukrainer uns gegenseitig helfen und die wichtigen Dinge erklären – wo wir welche Papiere herbekommen, welche Regeln und Gesetze es zu beachten gilt. Und ich habe sogar gelernt, wie hier in Deutschland der Müll korrekt getrennt wird und wo ich Gelbe Säcke erhalte“, schmunzelt die 36-jährige stolz.
„Wir hoffen jeden Tag, dass der Krieg vorbei ist“
Ihr Lebensgefährte Khalid hatte in seiner Heimat Sudan Informatik studiert, nach seiner Auswanderung in die Ukraine eine Privatpilotenlizenz für einmotorige Maschinen erworben und sich einen beruflichen Traum erfüllt. Zuletzt hatte er die Theorieblöcke für die kommerzielle Fluglizenz bestanden und sammelte Flugstunden für die praktische Prüfung. Der Flughafen ist jetzt jedoch zerstört, die Fliegerei muss er aller Voraussicht nach vorerst auf Eis legen, zumal die gesamten Dokumente und Zertifikate in der Ukraine geblieben sind. Wie es beruflich für ihn weitergeht, ist ungewiss.
„Wir hoffen jeden Tag, dass der Krieg vorbei ist“, sagt der kräftige Mann, der allerdings auch ganz rührselig werden kann, wenn er seine kleine Tochter auf dem Arm hält und erzählt, wie tapfer sein kleines Mädchen die Strapazen der vergangenen Wochen überstanden hat. „Und wenn der Krieg vorbei ist, laden wir Henning, Mirjam, Merle, Emma und Pelle zu uns in die Ukraine ein. Das sind wir ihnen – und allen, die uns geholfen haben – schuldig. Wir werden für immer dankbar sein.“
Dieser Artikel erschien am 08.04.2022 in der Ausgabe #067.
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