4. März 2022 · Inneres

"Kiew braucht Waffen": Rebecca Harms im Interview zum Krieg in der Ukraine

Die frühere Grünen-EU-Abgeordnete Rebecca Harms erklärt im Rundblick-Interview, warum die Ukraine jetzt militärisch unterstützt werden muss. | Foto: Heinrich-Böll-Stiftung/Rainer Erhard, Ukrainisches Verteidigungsministerium

Rebecca Harms, ehemalige Grünen-Fraktionsvorsitzende im Landtag, war bis 2019 EU-Abgeordnete – und Sprecherin der Grünen-Fraktion. Sie hat sich 2013 engagiert für den Maidan, die Protestbewegung in der Ukraine für einen EU-Beitritt. Später zählte Harms zu den europäischen Politikern, die sich ganz entschieden für eine Annäherung der Ukraine an die EU ausgesprochen haben – und die russlandfreundliche Position des früheren Kanzlers Gerhard Schröder öffentlich massiv angegriffen haben. Sie wurde von Russland zur „unerwünschten Person“ erklärt. Gegenwärtig engagiert sich Harms weiter für die Reform der EU, sie unterstützt die Regierung in Kiew und hält enge Kontakte zu den dortigen Politikern. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick erläutert sie ihre gegenwärtigen Eindrücke.

Rundblick: Frau Harms, Sie haben über viele Jahre enge Kontakte aufgebaut zu vielen Menschen in der Ukraine. Können Sie an Beispielen schildern, wie es Ihren Freunden dort geht?

Harms: Einige meiner besten Freunde und Freundinnen sind in den letzten Tagen auf der Flucht gewesen. Wenn ich mit ihnen sprach, kam oft Fliegeralarm und sie mussten Schutz suchen. Wir hatten große Angst, dass auch Bahnhöfe angegriffen werden, die voller Menschen sind. Andere Freunde, auch Abgeordnete und Diplomaten, sind bei der Armee oder beim Zivilschutz, sie kämpfen für ihr Land. Journalisten sind jetzt wieder Kriegsberichterstatter und sorgen unter großem Risiko dafür, dass wir die Wahrheit über Putins Angriffskrieg erfahren. Sie schreiben manchmal in ihren Badezimmern. Sie haben Matratzen und Kissen in die Badwannen gelegt, um bei Angriffen geschützt zu sein. Freunde leben ohne fließendes Wasser in den Wohnungen, sie haben Kanister gefüllt. Die Lebensmittel werden knapper.  

Rundblick: Wird die bisherige Unterstützung aus dem Westen als ausreichend angesehen? Welche weiteren Hilfen halten Sie für erforderlich?

Harms: Die Hilfe kam spät. Für einiges zu spät. Wir werden, wenn dieser Krieg denn vorbei ist, darüber reden müssen, warum das Regime Putin so lange so falsch eingeschätzt wurde. Jetzt sind die Ukrainer froh über das, was sie bekommen. Auf der Liste der Güter, die gebraucht werden, stehen Waffen, Schutzausrüstung für Soldaten und alle Formen von medizinischem Notfallmaterial ganz oben. Der Himmel über der Ukraine muss gesperrt werden. Humanitäre Hilfe und sichere Fluchtkorridore werden gebraucht. Die UN hat gestern Kiew verlassen.  

Rundblick: Glauben Sie, dass die Diplomatie noch eine Chance hat? Wie könnte sie eingesetzt werden?

Harms: Die UN-Resolutionen  zur Verurteilung des Krieges und zur Nichtanerkennung der Annexion der Krim waren wichtige Signale. Die Chancen auf Erfolge der Diplomatie müssen Diplomaten beurteilen. Die Ukrainer müssen jetzt seit acht Tagen ihr Land und ihre Freiheit gegen diesen Überfall, der an einem Morgen um 5.45 Uhr begann, verteidigen. 5.45 Uhr, welch zynische Parallele.

Rundblick: Was können die Menschen in Niedersachsen tun, um der Ukraine beizustehen?

Harms: Unterstützen sollten sie mit Spenden und vielfältiger Hilfe. Die ukrainische Armee hat ein Spendenkonto. Es gibt Konten, mit denen humanitäre Hilfe finanziert wird. Wir werden viele Wohnungen und auch Arbeit für die Menschen auf der Flucht brauchen. Die meisten Menschen, die jetzt fliehen, wollten in den ersten Tagen nicht weg aus der Ukraine. Die Bombardierungen und der furchtbare Beschuss von Städten wie Charkiw haben das inzwischen aber erzwungen. Sie werden zurückgehen in ihre Heimat, sobald es geht.

Rundblick: Was steckt aus Ihrer Sicht hinter den wüsten Beschimpfungen, die Putin an die Adresse der führenden Politiker ausgesendet hat?

Harms: Hass und Machtwahn, außerdem neosowjetischer Imperialismus. Er hat immer wieder gesagt, das schlimmste sei, dass die Sowjetunion zerfallen sei. Der KGB-Wahn steckt in ihm. Er belügt seit Jahren die Bürger Russlands über angebliche Faschisten und Nazis in der Ukraine, um seine Russen dort befreien zu können. Das war ja schon die Begründung für den Krieg 2014. Diese aggressiven nationalistischen Töne sind leider nicht nur nicht ernst genommen worden, sondern von Mietmäulern wie Gerhard Schröder auch noch relativiert und gerechtfertigt worden. 

Rundblick: Wie haben Sie die leitenden Politiker in der Ukraine erlebt (etwa Präsident Selenskyi, auf jeden Fall aber Vitali Klitschko)? Wie charakterisieren Sie diese Politiker und die Politik in der Ukraine?

Harms: Ich bewundere die ukrainischen Politiker, die nicht nur Teil der Verteidigung ihres Landes sind. Präsident Selenskyi wächst über sich hinaus in der Art, wie er die Ukrainer anspricht und sie ermutigt. Er ist Ziel eines Mordplans von Putins Spezialeinheiten. Er bleibt trotzdem bei seinen Leuten. Er ist das genaue Gegenteil von Putin, der seine Armee in diesen Krieg schickt, den Kopf voller Lügen über die Ukraine und voller nationalistischer Propaganda.  

Rundblick: Wie kann aus Ihrer Sicht eine stabile Weltordnung in Osteuropa aussehen, wenn dieser Krieg vorüber ist? Bleibt da Platz für eine unabhängige Ukraine?

Harms: Die Ukrainer kämpfen seit nun acht Tagen für ihre Freiheit und ihren unabhängigen Staat. Sie werden einer Finnlandisierung, also einer absoluten Neutralität, nicht zustimmen. Wer das hier heute empfiehlt, der empfiehlt ihnen einen Staat wie Belarus.  

Rundblick: Was halten Sie von Forderungen, die Ukraine in die EU aufzunehmen? Wie steht es mit der Nato?

Harms: Die Ukraine wurde als unabhängiges Land schon 2014 brutal angegriffen. Ich bin sehr froh, dass der Ukraine  jetzt, leider erst jetzt, die Mitgliedschaft in der EU eröffnet werden soll. Es war immer ein Fehler, diesen Weg zu versperren. Die Begründung damals lautete, dass es der Sicherheit dienen sollte - genau wie das Nein zur Nato-Mitgliedschaft. Wir sehen, dass es für die Ukraine nicht ein Mehr an Sicherheit, sondern ein Desaster wurde, dass wir sie auf Abstand gehalten haben. Ich traue mir gegenwärtig nicht zu, über die Zukunft unserer Bündnisse Voraussagen zu machen. Das machen ja schon die, deren diplomatische und politische Ansätze zum Osten Europas und zu Russland in Trümmer gelegt werden. 

Rundblick: Sie sind ehemalige Europaabgeordnete. Welche Rolle nehmen Sie derzeit wahr?

Harms: Ich werbe jetzt dafür, dass die Beschlüsse der Bundesregierung unterstützt werden. Mehr Unterstützung akut für die Ukraine. Und mehr gemeinsame Leistungen der EU und in der Nato für unsere Verteidigungsbereitschaft. Das ist immer noch nicht einfach in Deutschland. Es ist furchtbar, was alles erst passieren musste, damit der deutsche Kurs sich änderte. Das Zögern hat etwas in mir zerbrochen.  Aber jetzt unterstütze ich den neuen Weg der Bundesregierung.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #042.

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail