14. Nov. 2017 · Inneres

Für jede Fraktion ein Vizepräsident? Da möchte die AfD nicht abseits stehen

Ob die Sitzreihen das nächste Mal noch so geordnet sein werden wie gestern, bei der konstituierenden Sitzung des neugewählten Landtags, sei dahingestellt. Manche meinen, hier werde es „höchstwahrscheinlich noch Änderungen geben“. Denn das wirkte an diesem Dienstag schon ein wenig sonderbar. In Reihe eins, nahe dem Landtagspräsidium, sitzen je vier führende Abgeordnete von SPD und CDU, den vermutlich künftigen Koalitionspartnern, und je zwei führende Vertreter von FDP und Grünen, den beiden größten der drei kleinen Fraktionen. Nur die AfD hat lediglich einen Platz in der ersten Reihe – für die Fraktionsvorsitzende Dana Guth. Und sie sitzt Seit‘ an Seit‘ an einem Doppeltisch mit Björn Thümler, dem früheren Fraktionschef der CDU. Das ist nun aus zwei Gründen irgendwie komisch. Erstens hätte auch die AfD gern zwei Leute vorn gehabt, weil sich Vorsitzender und Parlamentarischer Geschäftsführer dann besser abstimmen können. Zweitens ist die Nähe von Guth und Thümler zumindest gewöhnungsbedürftig, bemühen sich doch SPD, CDU, FDP und Grüne nach Kräften zu betonen, dass sie von irgendwelchen Gemeinsamkeiten mit der AfD absolut nichts halten. Dazu würde etwas mehr räumliche Distanz wohl gut passen. Aber das alles zeigt nur: Der neugewählte Landtag hat im neuen Gebäude zwar Einzug gehalten, so richtig angekommen sind die Abgeordneten im schicken Plenarsaal aber noch nicht. Manche Details erregen Diskussionen. So ist zum Beispiel zwischen der ersten und der zweiten Reihe mehr Platz als zwischen den anderen Reihen, was wiederum den Meinungsaustausch zwischen den Fraktionsführungen und der Gefolgschaft erschwert. Immerhin sind dort jetzt Stühle mit Rollen aufgestellt, alle anderen Sessel sind auf verschiebbaren Schienen angebracht. Was man noch alles ändern soll und kann, wird künftig zwischen den neuen Fraktionen besprochen. Und dann sind da ja noch die anderen, weitaus wichtigeren Fragen. Bisher hatte der Landtagspräsident drei Stellvertreter, zwei von der SPD und einer von der CDU. Künftig könnten die kleinen Fraktionen mit Vizepräsidenten bedacht werden, denn die Sitzungsleitung soll nicht nur in der Hand von Mitgliedern der Regierungsfraktionen liegen. Die Frage ist nur: Wenn CDU, Grüne und FDP je einen Stellvertreter für die neue Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD) stellen dürfen, ist es dann fair, dass als einzige Fraktion die AfD keinen benennen darf? Die AfD-Fraktionsvorsitzende Dana Guth betont schon mal vorsorglich: „Wenn Grüne und FDP einen Vizepräsidenten haben, wollen wir auch einen.“ Allerdings trübten derartige Debatten, die noch sehr im Hintergrund laufen, die Festlichkeit des gestrigen Tages keineswegs. Es war in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Tag. Erstmals nimmt das Parlament in dem neugebauten Plenarsaal seine Arbeit auf, und dann ist es ein Landtag, der mit der AfD eine Fraktion mehr hat. Außerdem läuft in diesen Wochen alles auf eine Große Koalition hinaus, die es an diesem Ort seit 1970 nicht mehr gegeben hat. Und schließlich wird das erste Mal in 71 Jahren Landesgeschichte eine Frau zur Landtagspräsidentin gewählt, die Göttingerin Gabriele Andretta. Im Parlament werden aus diesem Anlass zwei würdevolle Reden gehalten. Die erste kommt vom Alterspräsidenten, dem CDU-Abgeordneten Heiner Schönecke aus Buchholz in der Nordheide. Er ist 71, so alt wie Niedersachsen selbst, und er nutzt die Gelegenheit, den Politikern ein paar Bemerkungen ins Stammbuch zu schreiben. Abgeordneter zu sein sei etwas ganz besonderes, und ein Volksvertreter müsse Diener des Volkes sein – und die Aufgabe haben, die Abgehängten oder Benachteiligten in die Mitte der Aufmerksamkeit zu rücken. Ganz so, wie es einst der Theologe Friedrich von Bodelschwingh getan habe, der Behinderte aus den entlegenen Dörfern in seine Heime mitten in der Stadt holte. Schönecke warb für die Kultur des Kompromisses, der zwar oft langweilig, glanzlos und „wenig sexy“ wirke, für die Demokratie aber enorm wichtig sei – niemand könne seine Haltung ohne Abstriche durchsetzen, jeder sei auf das Entgegenkommen der anderen angewiesen. Die neue Landtagspräsidentin Andretta, die danach in einer offenen Abstimmung einstimmig gewählt wurde, auch von allen AfD-Abgeordneten, hob in ihrer Rede ihre Unabhängigkeit hervor: „Ich werde alles tun, eine faire, gerechte und unparteiische Präsidentin zu sein.“ Sie rief dazu auf, in einer gemeinsamen Anstrengung mehr Frauen für die Mitwirkung in der Politik zu gewinnen und das Ansehen der Politik und des Parlaments bei den Menschen zu verbessern. „Wir müssen alles tun, damit das Vertrauensverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten verbessert wird.“ Manche Bürger spürten Ohnmacht und Wut, weil sie nicht glaubten, dass die Politiker noch in der Lage seien, eine sozial gerechte Gesellschaft zu gestalten. Teile von Andrettas Rede wurden auch von der AfD mit Applaus bedacht, als sie aber sich abgrenzte von „den nationalistischen, völkischen, autoritären und rechtspopulistischen Parolen, die uns als Demokraten beunruhigen müssen“, schwiegen die meisten AfD-Abgeordneten, Fraktionsgeschäftsführer Klaus Wichmann schüttelte gar den Kopf und schrieb eifrig mit. Minuten später, als Andretta den Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer zitierte („Wir sind verantwortlich nicht für das, was geschah, sondern dafür, dass es nicht wieder passiert“) und dazu aufrief, „gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Stimme zu erheben“, verweigerte die AfD wieder den Beifall. Das änderte sich erst, als die neue Präsidentin den Landtag als „Haus der offenen Tür, des Gesprächs und der Begegnungen“ ankündigte. Sie will „den Dialog für das Zusammenleben in der Zukunft“ suchen – und sich dafür an Kulturschaffende, Wissenschaftler, Verbandsvertreter und vor allem junge Leute wenden. Eine Botschaft, die diesen Tag im neuen, hellen und freundlich wirkenden Plenarsaal abrundet. Wie hatte es Alterspräsident Schönecke gesagt: „Wir haben jetzt die Chance zu beweisen, dass die Debatten in den neuen Räumen sich sehr stark verbessern können.“ (kw)  
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #202.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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