Der Schaden für Niedersachsens SPD ist immens: Seit einem guten Jahr schwelt die hannoversche „Rathausaffäre“, bei der es um die unzulässige Begünstigung eines engen Mitarbeiters von Oberbürgermeister Stefan Schostok (SPD) geht, elf Monate lang hat die Staatsanwaltschaft ermittelt. Jetzt endlich, nachdem sie Anklage erheben will, ist Schostok zum Rückzug bereit. Am Dienstag erklärte er: „Ohne hinreichende politische Unterstützung kann ein Oberbürgermeister nicht mehr uneingeschränkt zum Wohle der Stadt und ihrer Menschen arbeiten.“ Er beantrage seine Versetzung in den Ruhestand.

Warum ließ Weil zu, dass die Affäre monatelang das Rathaus lahmlegte und der SPD schadete? – Foto: [M] nkw/SPD-Nds

Der Fall wirft ein Schlaglicht auf massive Defizite im Krisenmanagement der Sozialdemokraten. Warum hat der Landesvorsitzende und Ministerpräsident Stephan Weil nicht frühzeitig eingegriffen, warum ließ er es zu, dass die Affäre monatelang die Arbeit im Rathaus lähmte und damit das Ansehen der hannoverschen SPD beschädigte? Hier fünf Thesen als Erklärungsversuch:

Stephan Weils Harmoniestreben

Der Ministerpräsident hat Übung darin, in problematischen Situationen nicht nur ruhig und gelassen zu bleiben, sondern stets auch die Haltung „Alles ist gut, ich habe alles im Griff“ auszustrahlen. So hat er wiederholt agiert, wenn es bei Volkswagen Schwierigkeiten gab und er als Aufsichtsratsmitglied eigentlich auf den Tisch hätte schlagen können. Wenn man ihn auf die Schwierigkeiten der SPD anspricht, pflegt Weil zu sagen, zuhause in Niedersachsen sei doch alles in bester Ordnung.

Zwischen 2013 und 2017 war Weil gleichzeitig fähig, in brenzligen Situationen rasch personelle Konsequenzen zu ziehen, der Abgang der Staatssekretäre Paschedag, Behrens und Rüter beweist das. Nun gibt es Anzeichen, dass ihn hier dieser Instinkt verlassen hat, dass Weil womöglich Opfer seiner eigenen Neigung zum Schönreden geworden sein kann. Es gibt jedenfalls keine Anzeichen, dass er Schostok viel früher massiv zu dem Schritt des Rückzugs gedrängt hätte, der jetzt, nach der Anklageerhebung, für die SPD viel zu spät kommt.

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Das Machtgefüge in der SPD

Womöglich ist Weil davor zurückgeschreckt, sich mit Schostok ernsthaft anzulegen, weil der OB im Parteiamt in Wahrheit mächtiger ist als der Ministerpräsident. Seit jeher geben die vier SPD-Bezirke (Hannover, Weser-Ems, Braunschweig und Nord-Niedersachsen) in der Landespartei den Ton an, der Landesverband ist nicht viel mehr als eine Dachorganisation der Bezirke.

Chef des SPD-Bezirks Hannover, der fast die Hälfte aller 56.000 SPD-Mitglieder im Lande versammelt, ist Schostok. Am Wochenende, auf dem SPD-Bezirksparteitag in Braunschweig, scherzte Weil: „Durch die Existenz der vier Bezirke habe ich mir als Landesvorsitzender eine Menge Ärger erspart.“ Tatsächlich ist es wohl eher umgekehrt: Ohne Schostoks Bezirksvorsitz hätte Weil auf ihn womöglich weit mehr Druck ausüben können.

Die verflixte Kommunalverfassung

Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte sind direkt vom Volk gewählt, das verleiht ihnen in der Kommunalpolitik eine extrem starke Stellung. In Hannovers Ratsversammlung merkt man den kulturellen Unterschied etwa zum Landtag. Kürzlich, als Schostok dort Konsequenzen ankündigte, ohne das genauer zu beschreiben, dankten ihm sämtliche Fraktionen und dosierten Kritik äußerst vorsichtig. Dass wenigstens die Ratsminderheit den OB richtig angreifen würde, erlebt man nicht, die Abgehobenheit des laut Kommunalverfassung starken Verwaltungschefs wird damit noch befördert.

Manchmal scheint es so, als labe sich der Rat an seiner eigenen Ohnmacht, anstatt die Kontrollfunktion offensiv wahrzunehmen. So musste Schostok für seine monatelang vorgetragene Behauptung, an den Vorwürfen gegen ihn sei „nichts dran“, keinen ernsthaften Widerstand aus der Kommunalvertretung befürchten. Womöglich hat das Weil in seiner Haltung, in Ruhe die Entwicklung abzuwarten, noch bestärkt.

Die Verflechtung von Rathaus und SPD

Als Totalausfall zeigten sich auch die regionalen Gliederungen der SPD. Der Unterbezirk mit seinem Vorsitzenden Matthias Miersch schwieg öffentlich strikt, der Stadtverbandsvorsitzende Alptekin Kirci  ließ sich vorübergehend sogar mit dem Satz zitieren, Schostok habe „alles richtig gemacht“, die Ratsfraktionsvorsitzende Christine Kastning bewies nach außen stets Treue zum OB.

Eine Erklärung für dieses Verhalten kann historisch gesehen werden in der langen Verzahnung zwischen der Stadtverwaltung und der SPD. Vergangenen Montag diskutierte der SPD-Bezirk Hannover über den ehemaligen Bezirksvorsitzenden Peter von Oertzen, der 1970 für Aufbruch und Erneuerung in der SPD stand. Sein späterer Nachfolger Wolfgang Jüttner berichtete, dass noch in den sechziger und siebziger Jahren Mehrheiten auf SPD-Parteitagen im Rathaus organisiert worden seien. Wenn die alte SPD-Spitze die Attacken der außenstehenden Jusos habe abwehren wollen, habe man seinerzeit sogar die – damals SPD-eigene –  „Hannoversche Presse“ einschalten und sich auf deren Parteitreue verlassen können.

Womöglich sind Überreste dieses alten Denkens noch heute im Rathaus vorhanden. Womöglich fußt darauf auch eine zumindest bei Schostok erkennbare Haltung, die rechtswidrige Zulage für Schostoks Büroleiter Frank Herbert müsse doch eigentlich gerechtfertigt sein, da es sich bei ihm um einen fleißigen und rechtschaffenen Sozialdemokraten gehandelt habe. Wenn aus Traditionsgründen also in der SPD keine Verärgerung über die Zulage an Herbert erkennbar laut artikuliert wurde, kann das ein Grund sein, warum bei Weil in der Staatskanzlei lange Zeit keine Alarmsignale angekommen waren.

Die Geringschätzung des Rechts

Eine Parallele zur Vergabeaffäre, die 2016 und 2017 die Landesregierung heimsuchte, wird erkennbar. Wie das Vergaberecht ist auch das Beamtenrecht höchst kompliziert, bestimmt auch zu kompliziert. Manchmal wird ein Widerspruch zu praktischen Erfordernissen erkennbar – und dann versucht man, Auswege zu suchen. Frank Herbert, eine wichtige Stütze des in Verwaltungsfragen überforderten OB Schostok, wollte eigentlich Dezernent werden, doch die Möglichkeit war in der Verwaltungsstruktur verwehrt. Also sollte er wenigstens viel besser bezahlt werden – und Schostok hoffte wohl, im Kontakt mit dem Innenministerium dafür einen Weg zu finden.

Dass dies aber mit den Beamten im Ministerium nicht zu machen war, hat der OB wohl lange nicht wahrhaben wollen. Und die unrechtmäßige Geldleistung an Herbert sah er wohl als Kavaliersdelikt an, anders ist seine Hoffnung nicht zu erklären, das Ermittlungsverfahren würde im Sande verlaufen. Als dann kurz nach Ostern die Anklage der Staatsanwaltschaft wegen „schwerer Untreue“ auf den Tisch kam, sind wohl nicht nur im Rathaus viele aus einem Traum erwacht. (kw)


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