Warum nur haben die Politiker derzeit einen so schlechten Stand bei vielen Bürgern? Warum bezweifeln in Umfragen immer mehr Menschen, dass das demokratische System die Probleme noch lösen kann? Die Antwort lautet: Weil sich die politische Debatte von den Themen, die die Menschen bewegen, abgekoppelt hat. Politiker und leider auch viele Medienschaffende reden lieber über die Art des Umgangs miteinander als über das, was die Leute wirklich beschäftigt.

Ein Beispiel liefert die Diskussion über Friedrich Merz und seinen – etwas locker ausgesprochenen – Satz über das Stadtbild. In der Migration, sagte der Kanzler, sei man schon sehr weit. Dann fügte er hinzu: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem. Und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ Wenn man diese Aussage sehr genau nimmt, bedeutet sie, dass im Stadtbild – bestimmter, vieler oder nur einiger Städte – viele Menschen leben, die ausreisepflichtig sind und bisher Deutschland nicht verlassen haben. Das ist natürlich arg verkürzt, beleuchtet nur einen Teil, womöglich auch nur einen kleinen Teil der Probleme in den Innenstädten. Es wäre mehr als angemessen, mit dem Kanzler über einen intensiven und kritischen Diskurs zu seiner Bemerkung einzutreten.
Doch das passiert eben nicht. Die Debatte beißt sich an der Form fest. Viele Grünen-Politiker, parteiinterne Gegner aus der CDU und Politiker der SPD greifen den Kanzler für seine Wortwahl an. Eine Protestveranstaltung vor dem hannoverschen Rathaus wird organisiert, Oberbürgermeister Belit Onay wirft Merz vor, er schließe „vom Aussehen auf gesetzeskonformes Verhalten“, mehrere Repräsentanten der Grünen halten dem Regierungschef in einem offenen Brief „rassistisches, diskriminierendes, verletzendes und unanständiges Verhalten“ vor. Kurzum: Es geschieht das, was typisch deutsch ist im Jahr 2025: Wenn jemand etwas Zugespitztes äußert, wird voller Empörung über die Form gestritten, es werden Anschuldigungen und Bekenntnisse ohne Ende ausgesprochen. Über den Inhalt aber, den Kern des Gesagten, spricht keiner mehr.
Gott sei Dank gibt es ein paar Leute, die das erkannt haben und gegensteuern – etwa der Spitzenkandidat der Grünen für die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Cem Özdemir. Oder der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer. Sie haben längst erkannt, dass Merz womöglich in seiner gerafften Aussage eine unzulässige Verallgemeinerung ausgesprochen hat. Das größere Problem aber, das wissen Palmer wie Özdemir, liegt tiefer. Und es bedarf einer Lösung, wenn nicht rechtspopulistische Kräfte immer mehr Zuspruch bei Wahlen bekommen sollen.
Die Politik muss die folgenden Fragen klären: Stimmt es, dass sich heute viele Menschen nicht trauen, nachts in bestimmten Stadtteilen von mittleren und größeren Städten unterwegs zu sein? Wenn ja: Worin ist diese Angst begründet? Gehen Polizisten und Ordnungsdienste nicht konsequent genug gegen Gruppen vor, die sich nicht an Regeln halten, andere Menschen bedrängen oder bedrohen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Auffälligkeit junger Männer in Innenstädten und ihrer Herkunft oder kulturellen Prägung? Wenn ja: Muss der Staat darauf mit mehr polizeilicher Härte reagieren oder mit einem neuen Konzept der Integration? Sind hier Probleme womöglich im Laufe der Jahre größer geworden, weil es in der Gesellschaft lange ein Tabu war, solche Zusammenhänge auch nur zu erfragen? Gibt es in einigen Städten Zonen, in denen die Macht und Autorität von Polizei und Sicherheitskräften nicht mehr akzeptiert wird? Wenn ja: Wie muss der Staat darauf reagieren? Gibt es ausreichend Aufenthaltsmöglichkeiten für Obdachlose, kann sich die städtische Sozialarbeit gut genug um diese Menschen kümmern? Ist in einigen Städten missachtet worden, dass die Werte Ordnung und Sauberkeit dauerhaft gewährleistet werden müssen, damit sich die Bewohner und die Besucher noch wohl fühlen?
Über diese Fragen lohnt es sich zu sprechen und nach Antworten zu suchen. Das wäre jedenfalls weit sinnvoller und ergiebiger als das permanente Beharren darauf, dass sich der Kanzler für seine verkürzte Darstellung entschuldigen soll. Aber man bekommt den Eindruck, dass einige Teilnehmer der aktuellen Debatte diese Fragen am liebsten gar nicht diskutieren möchten und froh sind, sich stattdessen in Ritualen der Empörung über Merz aufhalten zu können. Sie brauchen die Erregung über die Form, um sich nicht mit dem Inhalt befassen zu müssen.
Das Politikjournal Rundblick beleuchtet heute diese Themen:
Ich wünsche Ihnen für heute ganz viele neue Inhalte, gleich in welcher Form.
Klaus Wallbaum


