29. Sept. 2025 · 
HintergrundGesundheit

Fachleute fordern: Die Krankenkassen sollen die Kosten für Abnehmspritzen übernehmen

Medikamente zum Abnehmen haben sich bewährt, sagen Experten. Manche von ihnen fragen: Warum müssen adipöse und herzkranke Patienten sie dann selbst bezahlen?

Die Stimmung war euphorisch, in der Medizinwelt ebenso wie unter denjenigen, die mit ihrem Gewicht hadern – und davon gibt es weltweit immer mehr. Vor gut zwei Jahren brachte der dänische Pharmahersteller Novo Nordisk das Medikament „Wegovy“ zur Behandlung von Adipositas auf den Markt. Der Wirkstoff Semaglutid hilft beim Abnehmen – Diabetikern und Adipösen ebenso wie gesunden Menschen. In niedrigerer Dosis ist er auch unter dem Markennamen „Ozempic“ erhältlich. Dieses Medikament ist zur Behandlung von Typ 2 Diabetes zugelassen, gefragt ist es aber auch zur Gewichtsreduktion – ein so genannter "Off-Label-Use". Durch die "Abnehmspritzen" wurde Novo Nordisk zeitweise zum wertvollsten börsennotierten Konzern Europas. Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt: Novo Nordisk kündigte kürzlich an, zehn Prozent der Stellen abbauen zu wollen. In Deutschland kann Semaglutid zwar verschrieben werden, jedoch ist eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen nach wie vor ausgeschlossen. Wie es im Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) heißt, stehe bei der Anwendung „eine Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund“ – analog zu Potenz- oder Haarwuchsmitteln. Damit sind Abnehmwillige, die nicht dauerhaft die 180 bis 330 Euro monatlich für das Medikament aufbringen können, außen vor.

Ein Porträtfoto zeigt einen lächelnden Mann im Poloshirt.
Hausarzt und Diabetologe Til Uebel | Foto: privat

Trotzdem ist die Spritze im Alltag angekommen, sagt der Allgemeinmediziner und Diabetologe Til Uebel: „In meiner Praxis spricht täglich jemand das Thema an.“ In Deutschland sind 53 Prozent der Menschen übergewichtig, haben also einen Body-Mass-Index von mindestens 25. 19 Prozent kommen auf einen Body-Mass-Index von 30 oder mehr, was als Adipositas bezeichnet wird und nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation und nach einem Beschluss des Bundestages auch in Deutschland als Krankheit gilt. Auf einer Online-Tagung des Zentrums für Gesundheitsethik (ZfG), das zur Evangelischen Akademie Loccum gehört, stellten Experten die Frage, ob der Ausschluss einer Kostenübernahme nach den vorliegenden Erfahrungen noch ethisch vertretbar ist. Schlanke Menschen, erklärte Uebel, könnten sich nicht vorstellen, wie belastend der soziale Alltag für füllige Personen sei: „Sie werden immerzu taxiert und angesprochen.“ Auch viele Mediziner seien der Meinung, man müsse ihnen „einfach ein paar Turnschuhe vor die Füße werfen“, dann sei das Problem gelöst. Dabei versuchten viele von ihnen bereits seit Jahren vergeblich abzunehmen.

Wenn Uebel Patienten auf ihr Übergewicht ansprechen muss, dann fragt er vorsichtig: „Was haben Sie für Erfahrungen mit Ihrem Gewicht?“ Diese Frage breche oft einen Damm. „Eine Patientin hatte schon 3000 Euro für einen Personal Trainer ausgegeben“, erzählt der Hausarzt. Von Studien, die die Gewichtsentwicklung über lange Zeit verfolgen, sieht er sich bestätigt: Im Schnitt und auf lange Sicht nahmen die Teilnehmer nur vier bis sechs Kilo ab, auch wenn sie alle Empfehlungen gewissenhaft umsetzten. Auch seine Erfahrung aus fünfundzwanzig Jahren Praxisalltag ist: „Gewichtsreduktion nur mit guten Willen funktioniert einfach nicht.“

Ein Foto zeigt mehrere Spritzen, ein Maßband, Hanteln, einen Apfel und einen Salat.
Medikamente zum Abnehmen sollten begleitet werden von einem Programm aus Ernährung, Bewegung und Verhaltensänderung, empfiehlt Prof. Stefan Engeli. | Symbolfoto: Rimma_Bondarenko via GettyImages

Deswegen, meint Til Uebel, hätten die neuen Wirkstoffe einen „ganz, ganz großen Umbruch“ gebracht: „Das straft alle Lügen, die zuvor gesagt hatten, es ginge auch anders.“ Sogenannte „GLP-1-basierten Wirkstoffe“ gibt es bereits seit rund zehn Jahren, erklärt Prof. Stefan Engeli, Klinischer Pharmakologe an der Universitätsmedizin Greifswald und Schriftleiter der Zeitschrift „Adipositas“. GLP1 ist ein Hormon im tieferen Darm. Es setzt bei der Nahrungsaufnahme Insulin frei, wird allerdings nach kurzer Zeit wieder abgebaut. Die Medikamente greifen in diesen Zyklus ein. Zuerst kam Liraglutid auf den Markt, dann Semaglutid unter den Markennamen Wegovy und Ozempic und schließlich Tirzepatid unter dem Namen Mounjaro. Jede Produktinnovation brachte eine verbesserte Wirkung: Auf Liraglutid reagierten dreißig Prozent der Patienten überhaupt nicht. Im Erfolgsfall konnte das Gewicht um bis zu fünfzehn Prozent gesenkt werden. Mit Semaglutid sind schon mehr als zwanzig Prozent Gewichtsreduktion möglich, und in Studien mit Tirzepatid erreicht fast die Hälfte der Teilnehmer ein Minus von mehr als 25 Prozent.

Stefan Engeli bewertet die Abnehmspritzen als „wirklich wirksame und sichere Wirkstoffe“ – auch wenn sie dem Darm „schon etwas zumuten“: Ein Patient von zehn klagt über Übelkeit, Erbrechen oder Durchfall. Imogen Sophia Weidinger von der Universität Bremen ergänzt, dass in Studien verhältnismäßig viele Teilnehmer aussteigen, teils wegen der Nebenwirkungen, teils wegen der hohen Kosten. Und Til Uebel berichtet vom Konflikt eines Patienten, der sich als persönliches Highlight gerne einen Besuch im Sternerestaurant gönnt und nun sagt: „Mit der Spritze macht es einfach keinen Spaß mehr.“ Häme, schiebt der Hausarzt vorsichtshalber hinterher, sei hier unangemessen: Für jemanden, der sich ohnehin dauernd beim Essen einschränken muss, sei das sehr belastend.

Ein Porträtfoto zeigt einen Mann mit Brille und Schiebermütze.
Prof. Stefan Engeli | Foto: Patrick Geßner

Viele Warnhinweise, die es zu Anfang gab, etwa dass die Spritzen krebserregend seien, hätten sich nicht bewahrheitet, sagt Engeli. Allerdings seien das bisher nur Alltagsbeobachtungen, Studien liegen noch nicht vor. Die Wirkung auf Männer und Frauen scheint unterschiedlich zu sein: Frauen nehmen mehr ab. Je größer die Gewichtsreduktion, desto größer ist die Differenz. Zudem wird von sogenannten „Semaglutid-Babys“ berichtet: Frauen, die sich nicht für fruchtbar gehalten hatten, wurden während der Einnahme schwanger. Eines jedenfalls scheint inzwischen klar: Wer das Medikament absetzt, nimmt wieder zu. „Bei anderen Krankheiten ist das auch so“, meint Engeli: „Wenn ich die Therapie beende, kommt der Bluthochdruck zurück. Warum sollte es bei Adipositas anders sein?“

Diese Erkenntnis führt direkt zur Frage: Wer bezahlt das? Vielen Patienten, sagt Uebel, müsse er erstmal erklären, dass „die Kosten für einen mittleren Tesla“ auf sie zukommen. 2024 hatten Politiker von FDP und CDU gefordert, dass man die Abnehmspritze auf Rezept bekommen müsse. Die AOK errechnete daraufhin, dass das die gesetzlichen Krankenkassen bis zu 45,8 Milliarden Euro im Jahr kosten würde. Til Uebel zweifelt an dieser Rechnung. Wenn man die Erstattung auf einen „vernünftigen“ Einsatz begrenze, also normalgewichtige und dabei gesunde Menschen ausnehme, seien die Kosten längst nicht so hoch. Auch bringt er die Möglichkeit ins Spiel, dass der Gesetzgeber in die Preisgestaltung eingreifen könne. „Es kann nicht sein, dass eine Firma dermaßen profitiert und Herzkranke das Medikament selbst bezahlen müssen“, findet er. Bisher, erläutert der Hausarzt, stieg für übergewichtige Herzkranke das Infarkt-Risiko noch, wenn sie abnahmen. Erst durch die GLP-1-basierten Wirkstoffe habe sich das geändert. Für Uebel ist das ein Beweis dafür, dass die Spritzen mehr sind als nur ein „Lifestyle-Medikament“.

"Am stärksten betroffen sind arme Frauen"

Solveig Lena Hansen und Imogen Sophia Weidinger von der Universität Bremen betrachten die Kostenfrage unter ethischen Prinzipien. Ausgehend vom Prinzip der Solidarität auf der einen und begrenzten Ressourcen auf der anderen Seite, argumentiert Weidinger, müsse man Kriterien dafür aufstellen, wer das Medikament bevorzugt bekommt. Diese Kriterien müssten evidenzbasiert, gesellschaftlich diskutiert und transparent sein. Beispielsweise könnten zuerst Adipositas Typ III-Patienten, also Personen mit einem Body-Mass-Index von 40 oder mehr, und bestimmte Diabetiker den Wirkstoff auf Rezept erhalten. Nachgeordnet seien Menschen mit weniger ausgeprägter Adipositas oder Diabetes, sodass zuletzt gesunde Menschen mit Übergewicht profitieren würden. Ein Arzt aus dem Publikum argumentiert mit den volkswirtschaftlichen Kosten: Man müsse die Kosten der Abnehmspritze abwägen gegen den enormen Preis, den die Gesellschaft für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zahlt.

Die Ursachen für Übergewicht, erklären die Medizinethikerinnen, seien komplex und in der Gesellschaft ungleich verteilt: So sei gesundes Essen vergleichsweise teuer und in bestimmten Wohn- und Arbeitsumgebungen schwer zu bekommen. Manche Wohngegend sei so angsteinflößend, dass sich insbesondere Frauen nicht mehr als nötig im Freien bewegen. „Am stärksten von Übergewicht betroffen sind arme Frauen“, betont Hansen. Zu vermeiden sei unter ethischen Aspekten, dass Druck auf Menschen ausgeübt werde, mit der Spritze abzunehmen, obwohl sie unter ihrem Gewicht nicht leiden. „Essen ist eine hochgradig soziale Handlung“, gibt Weidinger zu bedenken. „Andere Bedürfnisse überwiegen gegebenenfalls das Bedürfnis nach einem gesunden Lebensstil.“ Insgesamt kommen die Medizinethikerinnen zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie der Pharmakologe Engeli: „Medikamente können keine alleinige Lösung sein.“

Dieser Artikel erschien am 30.9.2025 in Ausgabe #171.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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