83 Prozent des Bestands an Wohngebäuden bundesweit sind Ein- bis Zwei-Familienhäuser. Sechzig Prozent davon werden von nur einer oder maximal zwei Personen bewohnt. „Bis 2035 werden es achtzig Prozent der Häuser sein“, rechnet Judith Nurmann vor. Die junge Stadtplanerin engagiert sich bei der Gruppe „Architects4Future“ in Hamburg. Sie appelliert: „Wir dürfen nicht weiter Gebäude bauen, die nicht mehr zur Bevölkerung passen.“ Auf dem Kirchentag in Hannover diskutierte sie mit Noch-Bauminister Olaf Lies und anderen Experten über Wohnen im Wandel. Das Podium trug den süffisanten Titel „Bei Oma ist noch Platz“. „Die Gebäude sind seit 40, 50 Jahren gleich, aber die Anforderungen haben sich geändert“, pflichtete ihr Birgit Kasper bei. Sie leitet das Netzwerk für gemeinschaftliches Wohnen in Frankfurt am Main. Im 20. Jahrhundert, erklärte sie, baute man für eine „traditionelle Wohnbiographie“: Familiengründung, Hauskauf, lebenslanges Wohnen am gleichen Ort. Irgendwann pflegte die Tochter oder die Schwiegertochter die alten Eltern. Eine „selbstständige Wohnbiographie“ von Frauen kam in der Vorstellung von Stadtplanern und Architekten nicht vor, betont Kasper. Heute hingegen leben Frauen wie Männer als Singles, in wechselnden Beziehungen, in Wochenendbeziehungen oder Patchwork-Haushalten. Die letzten Lebensabschnitte verbringen zahlreiche Frauen als Singles. Viele dieser älteren, aber längst nicht pflegebedürftigen Single-Frauen seien interessiert an gemeinschaftlichen Wohnformen, argumentiert Kasper. „Aber das ist überhaupt nicht auf dem Schirm des Wohnungsmarktes“, kritisiert sie.

Hier widersprachen der künftige Ministerpräsident Olaf Lies und Jörn von der Lieth, Geschäftsführer der Hilfswerk-Siedlung in Berlin, vorsichtig: Nicht jede und jeder wünsche sich, in Gemeinschaft zu wohnen. „Wir brauchen beides: Angebote für ältere Menschen, die sich verändern wollen, und Quartiersarbeit für die, die bleiben wollen“, sagte Lies. Dass es kaum passenden Wohnraum für Singles gibt, liege nicht nur an den Vermietern, ergänzte von der Lieth: Die Baurichtlinien der Länder sehen 50 bis 55 Quadratmeter für eine Singlewohnung vor. „Das ist viel zu groß. Wir kriegen das auf 35 Quadratmetern hin“, meint er. Lies präsentierte die Novellierung der niedersächsischen Bauordnung 2024 als Vorbild: „Wir müssen die Standards senken!“, plädierte er. Es sei richtig gewesen, gegen den Widerstand der Kommunen die Stellplatzpflicht abzuschaffen. Für Judith Nurmann allerdings sind Neubauten keine überzeugende Lösung: „Der Bausektor ist der Elefant im Klimaraum“, sagte sie. „Zement, Glas und Stahl sind CO2-intensive Baustoffe. Wir müssen gucken, dass wir vom Abriss wegkommen und die Potentiale im Bestand nutzen.“ Als Vertreterin der jungen Generation könne sie allerdings schlecht zu älteren Hausbesitzern sagen: „Ihr wohnt falsch.“ Erfolg habe sie eher, wenn sie mit dem demografischen Wandel argumentiere. Niemand wolle, dass der Dorfkern verödet, weil die Bewohnerstruktur überaltert ist.

Eine wichtige Rolle beim Wandel des Wohnens, da waren sich die Podiumsteilnehmer einig, spielt die Kirche: „Niemand außer dem Staat besitzt so viele Immobilien in zentraler Lage“, hob Nurmann hervor. Birgit Kasper empfahl den Kirchen, eigene Immobiliengesellschaften zu gründen. Diese könnten Nachnutzungen von Gebäuden entwickeln, die gleichzeitig wirtschaftlich seien und sinnstiftend für die Gemeinden, die sich von ihren Sakralräumen, Pfarr- und Gemeindehäusern trennen müssen. „Macht nicht den gleichen Fehler wie die Städte vor 20, 30 Jahren und verscherbelt alles!“, appellierte sie. Wenn es sich für Investoren lohne, kirchliche Immobilien umzunutzen, müsse es sich für die Kirchen auch lohnen. Doch was tun mit den zahlreichen Einfamilienhäusern, in denen Wohnraum leersteht? „Viele schrecken davor zurück, im Alter Vermieter zu werden“, weiß Judith Nurmann. Die Kommunen müssten sie dabei unterstützen. In Österreich gebe es eine staatliche Agentur, die die Vermietung von privatem Wohnraum übernehme, ergänzte Jörn von der Lieth. Das Mietrecht, forderte er, müsse solche Vermieter besser absichern: Wenn zum Beispiel eine Seniorin günstigen Wohnraum anbiete gegen Mithilfe im Garten, müsse sichergestellt werden, dass sie diese Hilfe auch bekomme. „Wir bräuchten in jeder Kommune eine Transformations-Wohn-Agentur“, forderte Judith Nurmann unter lautem Applaus.