Es wird Zeit, den Antisemitismus wirklich zu bekämpfen
Wenn man die Parteien in Deutschland und auch in Niedersachsen befragt, von der Linken an einem Rand bis zur AfD am anderen, dann sind sich alle einig: Judenfeindlichkeit wird verabscheut, Antisemitismus wird nicht geduldet. Aber was genau ist denn diese „Judenfeindlichkeit“ überhaupt? Tatsächlich gibt es dazu recht unterschiedliche Einschätzungen – je nach politischem Standort desjenigen, der sich gegen den Antisemitismus wendet. Gerade jetzt, angesichts des brutalen Überfalls von Hamas-Kämpfern auf Israel, wird das wieder deutlich. Gegenwärtig wird die Solidarität mit Israel groß geschrieben. Doch im politischen Alltag fällt dieser Schritt manchen Kräften, auch in den demokratischen Parteien, durchaus schwer.
Hier soll versucht werden, einige merkwürdige Phänomene zu erklären:
Blindheit von rechts: In rechtsextremen Kreisen kommt es vor, dass judenfeindliche Äußerungen fallen, der Holocaust verharmlost oder abgestritten wird. Wenn beispielsweise Abneigung gegen den in Ungarn geborenen jüdischen Investor George Soros aus den USA geäußert wird, vermitteln diejenigen, die das äußern, Erzählungen und Legenden aus der NS-Zeit – die vermögenden jüdischen Unternehmer als Feindbilder. Die Blindheit von rechts, was diese Phänomene angeht, besteht in der Verharmlosung. Es wird dann von Fremdenfeindlichkeit oder Geschichtsklitterung gesprochen, von einer Verniedlichung des Nationalsozialismus – nicht aber davon, dass der Kern von Hass und Hetze in diesem Zusammenhang die feindliche Einstellung gegenüber den Juden ist. Die Verharmlosung rechtsradikaler Parolen gegenüber den Juden ist eine Form der Verdrängung.
Blindheit von links: In der Vorstellung mancher politischer Kräfte auf der linken Seite wird Antisemitismus gleichgesetzt mit dem Treiben von Neonazis und Faschisten. Auch hier wird nicht die Judenfeindlichkeit als solche thematisiert, sondern nur die Tatsache, dass dies ein Kernelement des Nationalsozialismus gewesen ist, und gegen den wendet man sich dann. Die Proteste gegen solche Erscheinungsformen richten sich dann nicht gegen Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen, vielmehr wird unter dem Motto „Wehret den Anfängen“ gegen vermeintliche oder tatsächliche rechtsextreme Gruppen protestiert. Manchmal drängt sich der Verdacht auf, es gehe den Demonstranten „gegen rechts“ gar nicht in erster Linie darum, auf die Gefahr aufmerksam zu machen und Maßnahmen dagegen zu ergreifen – sondern eher darum, mit der Pflege eines Feindbildes die eigenen Reihen zu schließen.
Blindheit im Umgang mit Israel: Die Schwierigkeit in der Debatte über Judenfeindlichkeit besteht darin, dass es zwei Schutzbedürftige eines unterschiedlichen Charakters gibt – die Juden, die überall in der Welt leben, und die Juden im Staat Israel, die wegen der politischen, geographischen und historischen Lage noch einmal in besonderer Weise bedroht sind und auch nicht unumstritten agieren. Die Solidarität mit Israel fällt gerade vielen Menschen in Deutschland, die sich politisch links verorten, schwer. Das liegt zum einen daran, dass auch Israel ein wehrhafter Staat ist, in den besetzten Gebieten des Gaza-Streifens auch als Besatzungsmacht agiert. Zum anderen sind im linken Spektrum in Deutschland seit Jahrzehnten viele USA-Gegner aktiv, das enge Bündnis zwischen Israel und den USA lässt beide in deren Sicht zu gegnerischen Staaten werden. Die heftige Polarisierung der vergangenen Monate rund um die geplante Justizreform der Regierung Netanjahu, die den Rechtsstaat in Israel gefährden könnte, hat bei vielen die Entfremdung von Israel noch verstärkt. Auf der anderen Seite genießen seit Jahrzehnten die Palästinenser Sympathien bei vielen Linken in Deutschland – vielleicht nicht die radikalislamische Hamas, aber schon die Palästinenser.
Warum schwieg der Kanzler?
Blindheit bei Anspielungen auf die Geschichte: Diese beklemmende Situation, einerseits Israel zu verteidigen, dann aber die Politik Israels in den besetzten Gebieten durchaus kritisch zu beurteilen, führt zuweilen zu einer Sprachlosigkeit der deutschen Politiker. Im Sommer 2022 war das so, als Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas in Berlin war und in einem Presse-Statement Israel einen „vielfachen Holocaust“ vorhielt. Kanzler Olaf Scholz schwieg dazu. Weil er nicht schnell genug reagieren konnte? Weil er nicht wusste, was er sagen sollte? Weil er keinen Eklat wollte? Man kann das Verhalten des Kanzlers angesichts der höchst heiklen Situation verstehen. Richtig war es trotzdem nicht. Die Lage ist heute immer noch schwierig, und sie dürfte noch schwieriger werden, wenn als Folge der Reaktionen der Israelis auf die Hamas-Anschläge wieder viele Menschen sterben – dann vermutlich sehr viele Palästinenser.
Blindheit im Kulturbetrieb: Tatsächlich sind die antisemitischen Erscheinungsformen vielfältig. Rechtsradikale pflegen sie, Amerika-Kritiker von links wie von rechts ebenfalls. Radikale Muslime, die nach Deutschland kommen, sehen im Staat Israel eines ihrer größten Feindbilder. Häufig werden Demonstrationen in Deutschland, in denen diese Kräfte auftreten, stillschweigend toleriert. Das ist ein Fehler und sollte beendet werden, wie überhaupt das Demonstrationsrecht engere rechtliche Schranken benötigt. Besonders perfide ist darüber hinaus der Antisemitismus, der von links kommt, sich mit den Freiheiten des Kulturbetriebes tarnt und auf diese Weise unangreifbar werden will. Im vergangenen Jahr gab es bei der Documenta in Kassel eine Diskussion über antisemitische Tendenzen, die Ausgrenzung israelischer Künstler und eine Einseitigkeit in manchen Darstellungen. Die Kultur-Staatsministerin Claudia Roth schaffte es nicht, sich überzeugend von derlei Entwicklungen abzugrenzen und Position zu beziehen, folglich geriet Roth selbst ins Zentrum der Kritik. Bis heute ist das Thema nicht geklärt.
Blindheit in der Außenpolitik: Die Kompliziertheit des Nahost-Konflikts ist auch ein Thema der europäischen Außen- und Entwicklungshilfepolitik. Oberstes Ziel muss es sein, zur Beruhigung und Befriedung in der Region beizutragen und im Sinne der Völkerverständigung zu wirken. Dazu passt aber nicht der Verdacht, dass Gelder – auch aus Deutschland – für die Palästinensische Behörde zweckentfremdet worden sein könnten zugunsten der Terror-Finanzierung der Hamas. Es ist gut, dass die EU dem jetzt einen Riegel vorschieben und die Geldleistungen streng überprüfen will. Das hätte schon früher geschehen müssen. Eine gesunde Skepsis gegenüber Regimen, die an einer Eskalation des Nahost-Konflikts interessiert sein könnten, ist ebenfalls angebracht. Der Iran, der die Hisbollah im Libanon stützt und vermutlich nicht zu Unrecht verdächtigt wird, Teil eines weltweiten Terror-Netzwerkes und ein internationaler Kriegstreiber zu sein, kann in dieser Lage kein Partner Deutschlands sein. Deshalb ist es auch gut und richtig, dass Niedersachsen keine eigene Repräsentanz in Teheran mehr betreibt. Es wird zwar zuweilen behauptet, dies sei noch der Fall – doch die Landesregierung hat die Unterstellung vehement zurückgewiesen.
Das gute Beispiel: Im Übrigen gibt es ein Vorbild in diesen Tagen, wie man miteinander umgehen sollte. Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, und Yazid Shammout, Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde in Hannover, haben in diesen Tagen noch einmal, öffentlich und fast demonstrativ, ihre Freundschaft unterstrichen. Beide zeigen damit: Juden und Palästinenser können vertrauensvoll miteinander umgehen, wenn sie aufeinander zugehen. Gerade jetzt, angesichts des Krieges, sind solche Zeichen extrem wichtig.
Dieser Artikel erschien am 11.10.2023 in der Ausgabe #175.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
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