9. Feb. 2023 · 
Soziales

„Es ist nicht ausreichend, was die Deutschen für die Iraner tun“

Die Aktivisten von „Hanover for Iran“ bereiten die nächste Demonstration vor (von links): Sorour, Sepehr, Ima, Ari, Mona und
Soschia. | Foto: Audrey-Lynn Struck

Hausaufgaben machen, Freunde treffen und auf Demonstrationen gehen: Für die Freundinnen Soschia, Sorour und Ima (ihre Nachnamen möchten sie aus Rücksicht auf ihre Familie nicht nennen) waren die Proteste ein Teil ihrer Kindheit. Alle ihre Eltern flohen vor ihrer Geburt aus dem Iran, versuchten jahrelang immer wieder in Deutschland auf das Unrecht in ihrer Heimat aufmerksam zu machen – ohne große Wirkung. Erst der Tod von Jina Mahsa Amini im September vergangenen Jahres löste eine bisher nie da gewesene Welle des Protestes, der Solidarität und der medialen Aufmerksamkeit aus. „Jeder hat gespürt, dass es dieses Mal anders ist“, erinnert sich Sorour. Seitdem halten die Demonstrationen im Iran an, trotz der drohenden Gefängnis- und Todesstrafen. Frauen schneiden sich aus Protest die Haare ab oder verbrennen ihre Kopftücher. „Es ist die größte existentielle Bedrohung, die das Regime je erlebt hat“, sagt die Hannoveranerin Soschia, Mitorganisatorin von „Hanover for Iran“. Die Protestbewegung ist eine von vielen in der Diaspora, die die demonstrierende Bevölkerung im Iran unterstützt und zeitgleich den politischen Druck im Ausland erhöhen möchte. 

„Das Ausland hat die Macht, die Revolution zu beschleunigen. Wir haben einen Hebel, aber den nutzen wir nicht.“

„Das Ausland hat die Macht, die Revolution zu beschleunigen, sodass nicht noch mehr Unschuldige hingerichtet werden. Wir haben einen Hebel, aber den nutzen wir nicht“, kritisiert Soschia. Viele Iranerinnen und Iraner sind enttäuscht von den „zu vorsichtigen Sanktionen“ aus Deutschland. Sie werfen der Bundesregierung Lippenbekenntnisse vor und prangern an, dass die Revolutionsgarde noch immer nicht als Terrorgruppe eingestuft wurde. „Es ist nicht ausreichend, was Deutschland und auch die anderen Länder bisher machen“, sagt auch die iranische Künstlerin Nishtman Abdollahi, die vor ein paar Jahren nach Braunschweig flüchtete. „Je länger es dauert, desto mehr Menschen sterben. Unsere Verwandten und Freunde müssen dafür mit ihrem Blut bezahlen.“ Schon jetzt sei spürbar, dass die Demonstrationen im Iran abnehmen, weil die Garde mit äußerster Brutalität gegen die Teilnehmer vorgeht. Von den magischen 3,5 Prozent der Bevölkerung, die es laut der Harvard-Politologin Erica Chenoweth für einen Umsturz bräuchte, ist man noch entfernt. 

Die Künstlerin Nishtman Abdollahi organisiert Demonstrationen in Braunschweig.

Mullah-Regime ist seit über 40 Jahren an der Macht

Eigentlich ist die Situation im Iran nicht neu. Seit Ablösung der Monarchie vor mehr als 40 Jahren wird insbesondere auf Frauen und politisch Andersdenkende von der Regierung zunehmend Druck ausgeübt. „Ich bin Aktivist geworden, weil ich in meinem Heimatland selbst erlebt habe, wie junge Iraner unterdrückt werden. Dort gibt es keine Freiheit, die anderen können nicht das erleben, was ich hier in Deutschland erlebe“, sagt der Student Sepehr. Feiern gehen, Dates haben oder ohne Angst demonstrieren: All das blieb dem „Hanover for Iran“-Aktivisten verwehrt. Nishtman Abdollahi kennt das Gefühl. „Als eine Frau hat man fast keine Rechte. Frauen dürfen nicht Fahrrad fahren, singen, tanzen, eigene Klamotten aussuchen oder entscheiden, wen sie lieben. Ich hatte keine Meinungsfreiheit“, sagt die 28-Jährige, die Demonstrationen in Braunschweig organisiert. „Du lebst in Deutschland, aber deine Gedanken und Gefühle sind im Iran.“ 

„Viele verstehen nicht, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen nicht gegen den Islam, sondern für Freiheit im Iran.“

Seit vier Monaten bestimmen die Demonstrationen den Alltag der Aktivisten. Dazu gehören auch Bedrohungen und Anfeindungen. So gebe es immer wieder Unbekannte, die bei Demonstrationen Fotos von ihnen machen und sogar Namen von Familienangehörigen bei ihren Drohungen ins Spiel bringen. „Ich fühle mich in Deutschland nicht sicher“, sagt die Aktivistin Mohadeseh Salehinasab, die schon mehrmals bei Demonstrationen in Hamburg bedroht wurde. So habe ein Mann ihr zugerufen, dass man wisse, wo sie wohnt. „Viele verstehen nicht, wofür wir kämpfen. Wir kämpfen nicht gegen den Islam, sondern für Freiheit im Iran“, sagt Ari. Die 27-Jährige erinnert sich noch gut an das Jahr 2009, als die Proteste in ihrer Heimat schon einmal überhand nahmen und mit Gewalt brutal niedergeschlagen wurden. Ari war eine der Demonstrantinnen: „Einer von der Sittenpolizei holte in meine Richtung mit einem Schlagstock aus. Ich war wie erstarrt.“ Im letzten Moment habe ein Jugendlicher ihr geholfen, statt ihres Gesichtes traf der Schlagstock den Oberarm des Jungen. Damals blieb der Protest ohne große Konsequenz. Vor etwa zwei Jahren folgte dann die nächste große Protestwelle, die wegen der Brutalität der Regierungskräfte auch als „Bloody November“ bekannt ist. Tagelang wurde das Internet komplett abgeschaltet, damit nur wenig über die Gewalt der Regierungsmitglieder und die zahlreichen Hinrichtungen ins Ausland drang.

Zensur und Kontrolle des Internets sind neben den Verhaftungen und Hinrichtungen wichtige Hebel der iranischen Regierung, Proteste zu unterdrücken. Aus Angst, dass ihr Handy auf offener Straße auf belastende Nachrichten oder Fotos von Demonstrationen überprüft wird, löschen viele täglich alle Daten. Das Internet ist so schlecht, dass die Aktivisten teils nur selten mit ihren Verwandten Kontakt haben können. Absicht? Die iranische Regierung plant seit Jahren die vollständige Abschottung und Überwachung des Internets, nach chinesischem Vorbild. Dabei soll ein Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen eine unrühmliche Rolle gespielt haben, wie einige Medien Anfang Oktober berichteten. „Sobald es ein nationales Internet gibt, gelangen Bilder und Videos von der Situation vor Ort nicht mehr nach draußen. Dann passieren Exekutionen zu Hauf“, warnt Soschia. Für sie ist Mitwirkung einer Firma aus NRW ein Beweis dafür, wie viele wirtschaftliche Verbindungen es weiterhin aus Deutschland in den Iran gibt, die die iranische Regierung unterstützen. „Der Staat muss diese Strukturen aufdecken“, fordert die gebürtige Hannoveranerin. Das gelte auch für die niedersächsische Landesregierung. So wisse die Aktivistin von einem Verwandten eines ehemaligen hohen Regierungsmitglieds, der in Hannover lebt, oder zwei TikTokern, die aus der Landeshauptstadt Videos produzieren, die an Propaganda grenzen würden. Bei Treffen zwischen iranischen Aktivisten und Landes- oder Kommunalpolitikern sei es entscheidend, die Verhältnisse im Iran wenigstens ansatzweise zu verstehen. Mittlerweile kämpft ein Teil der Demonstranten für eine Demokratie und der andere Teil für eine Monarchie. „Man muss wissen, mit wem man sich trifft und welches Bild man damit an die iranische Bevölkerung sendet“, sagt Soschia. 

Neben China, den Vereinigten Arabischen Emiraten und der Türkei zählt Deutschland zu den wichtigsten Importeuren im Iran. Aus wirtschaftlichen Gründen habe Deutschland deshalb zu lange die Unterdrückung geduldet. „Ich erwarte, dass Deutschland den Export und Import mit dem Iran stoppt. Solange Deutschland weiter mit der Regierung Handel treibt, bleibt das Regime stark“, sagt Mohadeseh Salehinasab. Eine wesentliche Rolle würden die aktuellen Berater der Bunderegierung spielen, die zum Teil enge Verbindungen zur iranischen Regierung hätten. Die Forderung von „Hanover for Iran“: „Wir brauchen neue Berater.“ Politische Partnerschaften oder die Solidaritätsbekundung der niedersächsischen Landesregierung seien ein wichtiger Schritt, dürften aber nur der Anfang sein. Vor allem ein proaktives Handeln der Bundesregierung ist den Aktivisten wichtig. Zu häufig hätten sie den Eindruck, die Politiker reagierten nur auf die Forderungen der Diaspora. „Ich wünsche mir eine komplett neue Nahost-Politik. Schluss mit dem Motto: Wandel durch Handel, so wurde vieles unter den Teppich gekehrt“, sagt die 31-jährige Sorour.

Besonders kritisch betrachten die Demonstranten Familienangehörige der iranischen Machtelite, die in Freiheit und finanziellem Wohlstand im Ausland leben. „Wir überprüfen nicht gut genug, wer nach Deutschland kommt“, sagt Mona. Während der Asylantrag ihrer Freundin Ari seit fünf Jahren meist nur für ein halbes Jahr verlängert wird, obwohl sie in ihrem Heimatland politisch verfolgt wird, kämen viele Kinder der regimetreuen Machtelite unerkannt nach Deutschland. Hier genössen sie ein Leben in Freiheit und Wohlstand. So auch eine ehemalige Kommilitonin von Ari, deren Vater ein ranghoher Mullah ist. „Wir müssen diesen Kindern den Geldhahn zudrehen. Solche Personen diskreditieren unsere Bewegung aus Hannover heraus“, fordert Soschia. Gemeinsam mit „Hanover for Iran“ möchte sie mit ihren Demonstrationen weiterhin ein Zeichen gegen die Unterdrückung setzen – auch für andere Länder. Unterlassene Hilfe von Europa könnte auch andere Länder in ihren Freiheitsbewegungen demoralisieren und zukünftige Revolutionen im Keim ersticken, so ihre Befürchtung. „Die Bundesregierung hat eine Schlüsselrolle bei der Zukunft des Irans“, sagt Sorour und warnt: „Sollte die Revolution missglücken, wird die iranische Regierung alles daransetzen, dass so ein Protest nie mehr möglich wird.“

Die Aktivisten von „Hanover for Iran“ bereiten die nächste Demonstration vor (von links): Soschia, Mona, Ari, Ima, Sorour und Sepehr. | Foto: Audrey-Lynn Struck
Dieser Artikel erschien am 10.2.2023 in Ausgabe #025.
Audrey-Lynn Struck
AutorAudrey-Lynn Struck

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