Es dauert und dauert: Wie die Bürokratie die Digitalisierung an den Schulen verzögert
Digitale Schulen wollen (fast) alle. Aber warum dauert das so lange? Für Niedersachsens Schulen stehen knapp 470 Millionen Euro bereit. Der Rundblick folgt der Spur des Geldes.
Schon seit 2019, also vor der Pandemie, gibt es den „Digitalpakt Schule“ zwischen Bund und Ländern, der mehr als fünf Milliarden Euro für digitale Infrastruktur an den Schulen bereitstellt. Doch wurde bis zum Sommer 2021 nur ein Bruchteil der Mittel abgerufen. Niedersachsen nahm in der veröffentlichen Statistik vom 30. Juni immerhin Platz vier hinter den drei Stadtstaaten ein – mit einer Abrufquote von 4,9 Prozent der Mittel. Nach den Sommerferien versprach Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD), Druck zu machen. „Uns stellt die erreichte Bewilligungsquote nicht zufrieden“, sagte er im Landtag. Mögliche Gründe für Verzögerungen sind laut Tonne Lieferengpässe bei der Hardware, Materialmangel im Bausektor und überlastete Handwerksbetriebe, die nicht vor dem kommenden Frühjahr Wände durchstoßen und Kabel verlegen können.
Die bürokratischen Hürden für den Abruf der Mittel sind nach wie vor zu hoch.
Uwe Backs, Leiter der BBS Neustadt am Rübenberge, hat das nicht erlebt. „Bei uns ist bisher alles planmäßig gelaufen.“ Sicher, man müsse längere Vorläufe einplanen als vor der Pandemie. Doch wer frühzeitig bestelle, bekomme pünktlich geliefert. Auch Elisabeth Allmendinger vom Digitalverband Bitkom sagt: „Unsere Branche ist vorbereitet. Wir können den Bedarf an den Schulen decken.“ Sie sieht die Probleme woanders: „Wir dürfen nicht durch Bürokratie Zeit verlieren. Die bürokratischen Hürden für den Abruf der Mittel sind nach wie vor zu hoch. Das Geld muss schnell an den Schulen ankommen. Das ist eine Frage von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit.“
Die BBS Neustadt hat Ende 2019 ihr Medienbildungskonzept verabschiedet. Ein solches Konzept ist der erste Schritt, um Mittel aus dem Digitalpakt zu beantragen. „Das ist Arbeit, aber kein schwieriger Prozess“, resümiert Uwe Backs. „Erst denkt man: Müssen wir schon wieder ein Konzept aufstellen? Aber im Rückblick merkt man: Das war schon sinnvoll.“ Das Medienbildungskonzept muss beim Schulträger, meistens der Kommune, eingereicht werden, der aus den Konzepten der Schulen einen Medienentwicklungsplan strickt. Dies ist das erste Nadelöhr: Im örtlichen Schulamt müssen die Bereitschaft und die Kapazität da sein, das Thema anzupacken. In einem Leserbrief an die Computerzeitschrift c’t klagt ein anonymer Pädagoge aus Niedersachsen, man habe sein fertiges Konzept in die Schublade gelegt und warte jetzt, bis alle Schulen ihren Antrag eingereicht haben. Bis zum letzten Abgabetermin beim Land sei ja noch Zeit. Der ist 2023.
Diese Auslegung der Förderrichtlinien fordert sehr viele Beschreibungen ein und macht die Umsetzung damit etwas zäh.
Jeder Antrag der Schulträger wird beim Kultusministerium eingereicht, dort geprüft und bewilligt. Das nächste Nadelöhr: Anfangs gab es technische Schwierigkeiten bei der Antragstellung, die inzwischen behoben sind. Eine Sprecherin des Landkreises Nienburg berichtet über das weitere Prozedere: „Die Bedürfnisse der Schulen sind häufig sehr individuell. Dieser Individualität sollte ursprünglich von Seiten des Förderrichtliniengebers Rechnung getragen werden, indem bei Vorlage eines geforderten Medienbildungskonzepts nicht aufwändig geprüft werden sollte. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass individuelle Anträge doch sehr genau geprüft werden.“ Robotik-Bausätze, Werkzeugmaschinen, Diagnosesoftware, Keyboards mit Notenerkennung zum Komponieren: Um Schüler mit ihren jeweiligen Stärken zu fördern, gibt es vielfältige Technik. Das habe das Kultusministerium ganz genau erklärt haben wollen. „Diese Auslegung der Förderrichtlinien fordert sehr viele Beschreibungen ein und macht die Umsetzung damit etwas zäh.“ Die Nienburger wünschen sich „mehr Vertrauen in die Sinnhaftigkeit, Geeignetheit und Zweckmäßigkeit der individuellen Anträge.“ Doch Ende gut, alles gut: „Bisher ist jeder Antrag letztlich doch bewilligt worden, so dass wir grundsätzlich zufrieden sein können. Der Digitalpakt hat den Schulen im Landkreis den gewünschten Anschub in Sachen Digitalisierung gegeben.“
In der Nachbarkommune Neustadt war es im September 2021 so weit: Der Kultusminister überreichte den Bewilligungsbescheid über 790.000 Euro. „Mit dem Geld soll der Ausbau der IT-Infrastruktur durch passive Netzwerkkomponenten im Schulgebäude, also Netzwerkkabel, Steckdosen oder Splitter, vorangetrieben werden“, heißt es in der Pressemitteilung. Schulleiter Uwe Backs hofft, dass in den Weihnachtsferien die mehr als 100 Unterrichtsräume so weit verkabelt sein werden, dass er das WLAN in Betrieb nehmen kann. Mehr als zwei Jahre sind dann seit der Konzepterstellung vergangen. Im vergangenen Sommer hat der Schulträger, die Region Hannover, schon mal für den Glasfaseranschluss gesorgt. „Da haben wir Druck gemacht“, sagt Uwe Backs. „Das Netz wäre sonst zusammengebrochen, wenn alle Schüler mit ihren Geräten online gegangen wären.“
Alice Martens, Referentin für Schule und Bildung beim Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund, weiß um die Schwierigkeiten. „Die Bundespolitik will schnelle Erfolge sehen, scheitert damit aber an ihrer eigenen Konzeption“, sagt sie. Zwar haben Bund und Länder vor der Corona-Pandemie vereinbart, dass bis zum Ende des Jahres die Hälfte der Mittel abgerufen sein soll. „Gleichzeitig dürfen die Schulträger aber bis 2023 ihre Anträge stellen, weil der Digitalpakt vorgibt, im ersten Schritt den Ausbau der Infrastruktur in den Schulen vorzunehmen. Und das erfordert umfangreiche Planungs-, Vergabe- und Bauzeiten. Erst dann können weitere Mittel abgerufen werden, etwa für mobile Endgeräte“, erklärt Martens.
Seit der letzten offiziellen Statistik von Juni hat sich viel getan, argumentiert das Kultusministerium: Die Zahl der abgerufenen Mittel hat sich bis Oktober schon von 23 auf 32 Millionen (knapp sieben Prozent) gesteigert. Angesichts des langen Prozesses von der Bewilligung bis zum tatsächlichen Abruf möchte das Ministerium die Förderquote ohnehin lieber nach dem Antragsvolumen berechnen. Damit käme man auf 119 Millionen oder knapp 26 Prozent des Budgets, das niedersächsischen Schulen zusteht.
Wer zahlt nach der Anschubfinanzierung?
Alice Martens sieht schon die nächsten Herausforderungen kommen: Der Digitalpakt ist nur eine Anschubfinanzierung. Doch woher kommen die Mittel, um die Technik zu warten und kontinuierlich auf dem neuesten Stand zu halten? „Die Gefahr, dass ohne finanzielle Unterstützung viele den Anschluss wieder verlieren würden, wäre groß“, fürchtet man in Nienburg. Der Koalitionsvertrag des Ampelbündnisses verspricht dazu eine Menge: Gemeinsam mit den Ländern soll ein „Digitalpakt 2.0“ mit einer Laufzeit bis immerhin 2030 aufgelegt werden. „Dieser Digitalpakt wird auch die nachhaltige Neuanschaffung von Hardware, den Austausch veralteter Technik sowie die Gerätewartung und Administration umfassen“, heißt es in dem Papier. Kurzfristig soll erstmal der Mittelabruf unbürokratischer werden. Dazu sind im ersten Halbjahr 2022 Gespräche geplant. Neu dabei ist: Diesmal sollen nicht nur Bund und Länder, sondern auch die Kommunen als Schulträger einbezogen werden.
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