Wenn man ganz unten angekommen ist, führt der einzige Weg nach oben: Getreu diesem Motto herrschte in der Wirtschaftsregion Wilhelmshaven bis vor Kurzem noch großer Optimismus vor. Dass man im Regionalranking der IW Consult GmbH in 2022 im bundesweiten Vergleich mit 400 Landkreisen und selbstständigen Städten auf einem der letzten Plätze gelandet war, verstand man eher als Ansporn denn als Entmutigung. Schließlich hat Deutschlands einziger Tiefseehafenstandort beste Voraussetzungen, um eine ganz wichtige Rolle bei der kommenden Energiewende zu spielen. Doch inzwischen hat sich die freudige Aufbruchstimmung in der aufstrebenden Energiedrehscheibe am Jadebusen etwas eingetrübt.

Nachdem sich eine fast sicher geglaubte Multi-Millionen-Euro-Investition in den Standort wieder zerschlagen hat, stehen die Alarmzeichen auf Rot. „Die Absage der Papier- und Kartonfabrik Varel hat eine enttäuschte Stimmung hinterlassen, die nach Erklärung sucht“, erläutert John H. Niemann, Präsident der Wilhelmshavener Hafenwirtschafts-Vereinigung (WHV). Seine Sorgen um die Wirtschaftsentwicklung in der heimischen Region und um den Industriestandort Deutschland hat der Reeder jetzt in einem Brandbrief an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu Papier gebracht, der im CC auch an Robert Habeck, Christian Lindner, Stephan Weil und Olaf Lies gegangen ist. Neben Niemann hat das Schreiben auch der WHV-Vizepräsident und frühere N-Ports-Geschäftsführer Hans-Joachim Uhlendorf unterzeichnet. In der Hafenwirtschafts-Vereinigung sind rund 170 Institutionen und Unternehmen organisiert – von der AG Reederei Norden-Frisia über Eurogate und „Deutsche Flüssigerdgas Terminal GmbH“ bis hin zur Uniper-Kraftwerk GmbH.
„Auf dem Gelände des ehemaligen Uniper-Kohlekraftwerks, das Ende 2020 abgeschaltet wurde, hätten mit dem Projekt der Papier- und Kartonfabrik an die 400 neue Arbeitsplätze geschaffen werden können“, sagt Niemann zur verpassten Chance. Zweieinhalb Jahre lang hatte die Papier- und Kartonfabrik Varel (PKV), einer der zehn größten deutschen Papierhersteller, mit dem Bau einer klimaneutral arbeitenden Fabrik für ultraleichte Wellpappen-Papiere in Wilhelmshaven geliebäugelt, bis das Unternehmen diese Überlegungen Mitte Juni einstellte. „Für eine so bedeutende Investition sind die Unsicherheiten insbesondere in Bezug auf die Rahmenbedingungen derzeit zu groß“, begründete die PKV-Geschäftsführung den Schritt.

Dabei verwies die Firma insbesondere auf eine „dramatische Baukostenentwicklung“ sowie die Perspektiven für eine wettbewerbsfähige Versorgung mit grüner Energie. „Die Vorzeichen für dieses konkrete Projekt stehen nicht günstig genug“, so das Fazit. Nicht nur in Wirtschaftskreisen sorgte diese Entscheidung für Entsetzen. „Das ist nicht nur schade, das ist dramatisch“, sagte Oberbürgermeister Carsten Feist der Wilhelmshavener Zeitung und beteuerte sogleich: „An uns als Stadt lag es nicht.“ Die PKV-Geschäftsführung habe ihm gegenüber versichert, dass es allein an den politischen und bürokratischen Rahmenbedingungen gelegen habe. Dass diese derzeit nicht gegeben sind, bereite Feist „riesengroße Sorgen“.
Auch für WHV-Präsident Niemann stellt der geplatzte Fabrikneubau ein deutliches Warnzeichen dar. „Die beispielhaft beschriebene Investitionsabsage in der Region Wilhelmshaven scheint eine gesamt-politische Stimmungslage wiederzugeben, die sich für den Wirtschaftsstandort Deutschland desaströs entwickeln könnte“, warnt er. Schleichende Produktionsverlagerung ins Ausland und ihre Folgewirkungen würden ebenfalls deutlich machen, „dass die Rahmenbedingungen für eine günstige Wirtschaftsentwicklung in Deutschland derzeit nicht passen“.
Wie es anders geht, würden die USA zeigen, wo nicht nur Strom und Gas viel billiger sind, sondern auch über den „Inflation Reduction Act“ gewaltige Fördersummen fließen, um Produktion und Investitionen im Land zu halten. Laut Niemann liegt es nun an der Bundesregierung, die Energiepreise schnellstmöglich auf ein wettbewerbsfähiges Niveau zu bringen, Bürokratie abzubauen und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. „Des Weiteren erwarten wir für den notwendigen Import von grünen Energien und die dafür dringend erforderlichen Investitionen in neue Hafeninfrastrukturen – auch für die Offshore-Windenergie – eine maßgebliche Beteiligung des Bundes“, so die WHV-Spitze.
