Die Frage dürfte im ersten Moment nur Verwaltungsjuristen interessieren – doch ist sie für den Alltag in den Kommunalvertretungen von größerem Belang. Wann ist die in der Kommunalverfassung an verschiedenen Stellen verlangte „Einstimmigkeit“ erreicht – und wann nicht? Konkreter gefragt: Zählen Enthaltungen von Abgeordneten wie eine Nein-Stimme, da sie eine fehlende Zustimmung ausdrücken, oder zählen sie gar nicht, da mit einer Enthaltung keine Festlegung in der Sache getroffen wird?

Dazu hat jetzt das Oberverwaltungsgericht in Lüneburg einen wegweisenden Beschluss gefasst, und Auslöser war eine Abstimmung im Rat der Landeshauptstadt Hannover. Es ging um die Frage, nach welchem Berechnungsverfahren die Ausschusssitze des Rates zugeteilt werden sollen. Prinzipiell stehen seit vielen Jahren dafür zwei Varianten bereit. Das Verfahren nach d’Hondt, auch Höchstzählverfahren genannt, begünstigt eher die größeren Parteien, also traditionell SPD und CDU. Das Verfahren nach Hare-Niemeyer hingegen steht im Ruf, eher den kleineren Parteien zugeneigt zu sein. Zahlreiche Berechnungen an Modellfällen, die im Detail recht kompliziert sein können, belegen diese unterschiedliche Gewichtung.
Nun hatte der Landtag kurz nach der Kommunalwahl am 12. September 2021 die gesetzlichen Vorgaben verändert. Das bis dahin geltende Verfahren nach Hare-Niemeyer sollte abgelöst werden durch das Verfahren nach d’Hondt, wobei die Räte der Kommunen an dem bisherigen Verfahren festhalten konnten, wenn sie sich einstimmig dafür entscheiden. Diese gesetzliche Änderung geschah im Landtag mit Zustimmung von SPD und CDU, die seinerzeit eine gemeinsame Koalition bildeten. Die Grünen lehnten das ab, die FDP ebenso. Aus den Reihen der FDP wurde seinerzeit im Landtag vehement gegen die Reform protestiert mit dem Argument, die großen Parteien wollten die Vielfalt in den kommunalen Vertretungen beschneiden.
Im Rat der Stadt Hannover bezog sich die FDP nun auf die Ausnahmevorschrift im Gesetz, wonach ein kommunaler Rat von dem Wechsel zu d’Hondt abweichen kann, wenn er das einstimmig entscheidet. Folglich wurde im Rat der Stadt Hannover am 4. November 2021 ein Antrag der FDP eingereicht mit dem Ziel, weiterhin an Hare-Niemeyer bei der Sitzverteilung der Ausschüsse festzuhalten. Vermutlich in der Absicht, den Zorn der FDP und auch der Grünen nicht auf sich ziehen zu wollen, stellten sich SPD und CDU und auch die Grünen im Rat nicht offen gegen dieses FDP-Anliegen. Sie unterstützten es allerdings auch nicht, denn das wäre nun wiederum ein Affront gegenüber den eigenen Landtagsfraktionen von SPD und CDU gewesen.
Die Enthaltungen stehen einer Einstimmigkeit nicht entgegen.
Die Abstimmung ging so aus, dass 15 Ratsmitglieder für den FDP-Antrag mit Bezug auf den Verwaltungsausschuss stimmten, zehn mit Bezug auf die übrigen Fachausschüsse. Jeweils 49 Ratsmitglieder indes votierten in beiden Fällen mit Enthaltung. Die Stadtverwaltung erklärte daraufhin, die notwendige „Einstimmigkeit“ sei wegen der jeweils 49 Enthaltungen nicht erreicht worden – folglich gelte bei der Ausschussbesetzung nun d’Hondt und das FDP-Anliegen sei gescheitert. Daraufhin zog die FDP gegen diese Entscheidung vor Gericht.
Schon vor knapp einem Jahr, am 14. Oktober 2022, hatte das Verwaltungsgericht Hannover der FDP Recht gegeben. Nun folgt der Spruch in der zweiten und entscheidenden Instanz. Die Richter meinen, die Enthaltungen stünden einer Einstimmigkeit nicht entgegen. Wer sich enthalte, zeige damit ja gerade, dass er sich nicht festlege – also auch das Votum der anderen nicht störe. Da es hier nun keine Nein-Stimmen gegeben habe, könne man eine Einstimmigkeit feststellen. Eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht lässt das OVG nun nicht zu – aber auch gegen diese Nichtzulassung könnte die Stadt Hannover nun binnen eines Monats eine Beschwerde einlegen. Tut sie es nicht, wäre wohl die Neu-Zusammensetzung vieler Gremien der Stadt Hannover die notwendige Folge dieses Urteilsspruchs.