12. Okt. 2017 · 
Parteien

Eine Volksvertretung als des Volkes Vertretung

Wie wird sich Niedersachsen im Jahr 2022 verändert haben – dann, wenn der Landtag, der übermorgen gewählt wird, seine Amtszeit hinter sich haben wird? Der Rundblick wagt einen Blick voraus – in zwei Varianten. Heute: Der Parlamentsbetrieb. Variante A: Im neugewählten Landtag kommen die Fraktionen überein, dass die Arbeitsabläufe und -inhalte den veränderten Aufgaben angepasst werden müssen. Sie wollen mehr Bürgernähe erreichen – und das kommt überraschend gut an. Die Regierungserklärung des neugewählten Ministerpräsidenten deutet es schon an: Die nächsten Jahre werden ganz besonders werden, denn es steht eine neue Art der industriellen Revolution an. Die Digitalisierung wird, wenn sie denn umgesetzt ist, nicht nur den öffentlichen Dienst revolutionieren – tausende Arbeitsplätze werden entbehrlich, ein Frühverrentungs- und Umschulungsprogramm für Staatsdiener muss aufgelegt werden. Weil die neue Landesregierung das Ziel ausgegeben hat, nicht auf die allmählichen Veränderungen reagieren, sondern Vorreiter sein zu wollen, soll das Parlament diesen Prozess unterstützen. Das heißt: Es wird nicht nur ein eigener Ausschuss für die Folgen der Digitalisierung eingerichtet, der jede zweite Woche eine besondere Aufgabe hat – er soll in Anhörungen versuchen herauszufinden, wie der Reformprozess am besten laufen kann. Dazu werden Verbandsvertreter geladen, vor allem aber auch Wissenschaftler und Gutachter. Auch Erfahrungsberichte aus anderen Staaten werden aufgenommen. Diskutiert wird alles unter breiter öffentlicher Beteiligung. Lesen Sie in der Serie „Niedersachsen 2022“:   Generell werden sich die Landtagsausschüsse in der neuen Wahlperiode stärker darauf ausrichten, wie die grundsätzlichen Weichenstellungen für die Zukunft aussehen können. Das bedeutet: Die Ausschussarbeit wird verändert. Die Beratung von Gesetzesvorschlägen und Entschließungsanträgen fällt künftig knapper aus, mehr Zeit wird dafür mit konzeptionellen und zukunftsgerichteten Fragestellungen verbracht. Nach jeder solcher Anhörungen wird ein knappes Thesenpapier vom Ausschuss beschlossen, das dem Landtag und der Regierung zugeleitet wird. Auch die Unterrichtungen der Landesregierung über Vorkommnisse, zu denen der jeweilige Landtagsausschuss mehr wissen will, werden wesentlich knapper gehalten. Der Leitgedanke lautet, die bisherige Routinearbeit der Parlamentsgremien wesentlich zu straffen, damit mehr Freiraum bleibt für die neue, konzeptionelle Arbeit. Gleiches gilt auch für die Plenardebatten: Die Zeit für Gesetzes- und Antragsberatung wird eingedampft, dafür werden regelmäßig und öfter Grundsatzdebatten zu Fragen der Zeit angesetzt – und die Fraktionsführungen kommen überein, in solchen Situationen den Fraktionszwang aufzuheben. Das soll zu lebendigeren Diskussionen im Landtag beitragen und jungen oder besonders engagierten Abgeordneten die Chance geben, mit einem klugen und rhetorisch gut vorgetragenen Gedanken Eindruck zu hinterlassen. Auch die Redezeit wird radikal gekürzt, das zwingt jeden Abgeordneten, seine Argumente auf den Punkt zu bringen.   Variante B: Weil auch Linke und AfD in den Landtag einziehen, reagieren die bisherigen Fraktionen irritiert – sie ziehen sich noch stärker auf die bisherige, eingespielte Routinearbeit zurück. Der Landtag verpasst damit eine Chance, mit einer Veränderung seiner Abläufe und Verfahren einen Beleg für die eigene Reformfähigkeit abzuliefern. Noch bevor der neue Landtag zusammentritt, bricht Streit aus. SPD und Grüne sagen, die AfD dürfe nicht im Landtagspräsidium sitzen und schon gar keinen Posten eines der Landtagsvizepräsidenten bekommen. Die CDU antwortet, sie sehe das ähnlich – nur gelte das auch für die Linkspartei. Nein, entgegnet Rot-Grün, für die Linke solle das nicht gelten. Erst nach langem Hin und Her ringt man sich zu einer Regelung durch. Klar bleibt aber: Schon von Anfang an ist die Stimmung im neuen Landtag, der erstmals im frisch sanierten Plenarsaal zusammentritt, belastet. Hatten einige Abgeordnete behauptet, in der gerade abgelaufenen Wahlperiode sei es besonders ruppig und rücksichtslos zugegangen, sondern sagen nun einige, man sehne sich in die Zeiten des Übergangs-Plenarsaals im Georg-von-Cölln-Haus zurück. Dabei hat die Auftaktsitzung im neuen Plenarsaal noch gar nicht begonnen. Monate später hat sich alles so entwickelt: Der Landtag vollzieht seine Routinearbeit, von einer Modernisierung oder Belebung ist der Parlamentsbetrieb weit entfernt. Nur die Stimmung zwischen den Fraktionen ist gereizter, was auch mit den Schwierigkeiten zusammenhängt, mit AfD und Linkspartei umzugehen. Man beobachtet eine Abnahme der Kontakte und Gespräche zwischen den Mitgliedern verschiedener Fraktionen. Jeder macht seinen Bereich – und große Lust auf eine qualitätsvolle Plenardebatte scheint kaum noch ein Abgeordneter zu verspüren.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #180.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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