Eine geistig-moralische Wende sollte Aufbruchstimmung in Deutschland erzeugen
Das Schlimme am Status quo in Deutschland ist nicht die Lage an sich. Man kann ja durchaus unten liegen im Vergleich zu vielen anderen – und sich von dort hochrappeln. Wenn es tiefer kaum geht, ist der Blick zwangsläufig nach oben gerichtet, man muss dann die Ärmel hochkrempeln und anpacken, dann geht es schon wieder aufwärts. Das Schlimme am Status quo ist vielmehr, dass zu der bescheidenen wirtschaftlichen Lage noch eine verbreitete depressive oder resignative Stimmung hinzukommt. Der Moment des „Ärmel hochkrempeln und anpacken“ ist entweder noch nicht erreicht – oder er bleibt insgesamt aus. Dass Menschen in anderen Nationen schneller, wendiger, engagierter und fleißiger sind, sollte den Deutschen Ansporn geben. Das spürt man bisher allerdings viel zu wenig. Der Blick ist nicht nach oben gerichtet, sondern die Selbstbespiegelung überwiegt. Man erkennt bei sich die eigenen Schwächen und Defizite, bleibt dabei aber stehen.
Wenn hier als Wunsch für 2025 die „geistig-moralische Wende“ erwähnt wird, dann ist das natürlich zunächst eine ironische Bemerkung. Als Helmut Kohl (CDU) im Herbst 1982 neuer Bundeskanzler wurde und die damals 13 Jahre regierende sozialliberale Koalition beendete, verkündete er das Ziel der „geistig-moralischen Wende“. Das war ein Gegenbegriff zu den „68ern“, die staatliche Autoritäten und preußische Tugenden in Frage gestellt hatten. Gemeint war von Kohl eine Kultur der Anstrengung, der Disziplin, des Respekts gegenüber Älteren und Erfahrenen. Ironisch ist dieser Begriff heute deshalb, weil unter Kohl davon wenig in der Praxis umgesetzt wurde – und die Akteure der CDU/FDP-Regierung sicher nicht moralischer agierten als ihre Vorgänger von SPD und FDP. Die Grünen spielten damals noch keine große Rolle. Wenn ich heute nun nach der „geistig-moralischen Wende“ rufe, dann will ich sicher nicht zurück in die Kohl-Zeit, und die Inhalte dieser Wende dürften heute in vielen Punkten anders sein als damals, auch wenn es seinerzeit an klaren Definitionen mangelte.
Was aber soll heute passieren? Ein paar Thesen seien gewagt: Es sollte wieder chic werden, sich anzustrengen und voranzukommen – unabhängig von Arbeitszeitgrenzen, Work-Life-Balance oder neidischen Blicken auf andere, die es vermeintlich besser haben, weil sie weniger arbeiten müssen oder früher in Rente gehen konnten. Wir sollten die wirklich wichtigen Defizite in unserer Gesellschaft benennen, die Mängel im Bildungssystem etwa oder die dramatischen Defizite bei der Integration von Zugewanderten. Skurrile Debatten wie die über die künstliche Gender-Sprache sollten beendet werden, denn sie betreffen nur Schein-Probleme, keine wirklichen Probleme. Das Heil der Gesellschaft liegt nicht darin, überall vermeintliche Diskriminierungen aufzuspüren und Benachteiligungen zu identifizieren. Eine starke Gemeinschaft ist gefragt, in der jeder unabhängig von Alter, Geschlecht und Herkunft seinen Teil beiträgt – und jeder nach seinen Möglichkeiten mithelfen soll. Wer nicht arbeiten will, obwohl er es kann, sollte in diesem Verhalten nicht vom Staat unterstützt werden. Wer Hilfe braucht, sollte sie vorbehaltlos bekommen. Wir brauchen Weltoffenheit, Neugier auf die Vorzüge anderer Kulturen, die uns weiterbringen können. Abschottung führt zur geistigen Verarmung. Wir brauchen aber auch klare Regeln und harte Sanktionen gegen alle, die intolerant sind, die unsere freiheitlichen Grundwerte mit Füßen treten oder unsere Demokratie beseitigen wollen. Wir sollten uns hüten vor Politikern, die sich dem Diskurs verweigern und bestimmte Gruppen ausgrenzen, statt ihre Sichtweisen anzuhören und abzuwägen. Wer sich selbst moralisch überhöht, sollte mit Skepsis betrachtet werden. Und wir sollten uns hüten vor jenen, die unsere Probleme verdecken und uns eine schöne Schein-Welt vorgaukeln wollen.
Die „geistig-moralische Wende“ hat am Ende auch mit einer guten politischen Führung zu tun. Vom amtierenden Bundeskanzler ist der Spruch überliefert, dass er Führung zu liefern imstande sei, wenn man diese bei ihm bestelle. Doch in der Praxis wird Olaf Scholz vorgeworfen, dass er zögerlich und zurückhaltend geblieben war in all den Monaten, in denen die Ampel-Regierung vom Richtungsstreit wie gelähmt wirkte. Es wäre wohl seine Aufgabe gewesen, die drei Regierungsparteien auf eine Linie einzustimmen und diese Linie dann entschlossen vorzugeben – in einer Sprache, die von den Menschen nicht nur verstanden wird, sondern die bei ihnen auch Zustimmung erzeugt. Über Olaf Scholz kann man sagen, dass er hier die Erwartungen nicht erfüllt hat. Ob ein Friedrich Merz oder ein Robert Habeck es besser können? Sie waren beide noch nicht in einer Situation, in denen sie es schon hätten beweisen können. Eines immerhin ist aber gewiss: Wenn es darum geht, einen neuen Geist des Aufbruchs und der Anstrengung zu vermitteln, dann gehören dazu bestimmt auch die richtigen politischen Weichenstellungen. Noch wichtiger hingegen ist eine Regierung, die breite Zustimmung für ihre Initiativen erntet und die durch kluges Agieren motivieren kann.
Dieser Artikel erschien am 20.12.2024 in der Ausgabe #227.
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