Ein verpflichtendes Nahverkehrs-Ticket für jeden, der mit dem Auto in die Großstadt fahren will?
Mit neuen Vorschlägen versucht die SPD in der Region Hannover, die verkehrspolitische Debatte in Niedersachsen zu beleben. Sind das nun neue Hürden für die Autofahrer, die sich in Jahrzehnten rot-grün geprägter Stadtpolitik in der Landeshauptstadt benachteiligt sehen? Oder sorgen unkonventionelle, zum Widerspruch provozierende Gedanken für eine Belebung der stadtentwicklungspolitischen Debatten? Die Rundblick-Redaktion beleuchtet das Thema mit einem Pro und Contra.
PRO: Politische Debatten können sich nur weiterentwickeln, wenn man auch bereit ist, unpopuläre Gedanken einmal auszusprechen. Das Verdienst gebührt in diesem Fall der SPD im Unterbezirk Hannover, meint Klaus Wallbaum.
Ob die Akteure, die bei den verkehrspolitischen Debatten der hannoverschen SPD den Ton angeben, in Wahrheit lebensfremde Ideologen sind, weiß man nicht. Der politische Gegner ist schnell mit diesem Vorwurf zur Hand. Eines aber muss Matthias Miersch, dem erfahrenen Unterbezirksvorsitzenden, und seinen Vorstandskollegen schon bewusst gewesen sein: Ihr Vorschlag, jeden Autofahrer auf dem Weg in die Stadt Hannover zu verpflichten, vorher ein Jahresticket für die Züge, Busse und Straßenbahnen zu kaufen, musste energischen Protest hervorrufen. Ist das nun ein neuer Beitrag aus der Serie an Vorschlägen, wie die rot-grün dominierte Landeshauptstadt den Autofahrern das Leben schwer machen will?
Gesunde Basis für chronisch unterfinanzierte Öffis
Was man von diesem Vorstoß in der Sache hält, sei dahingestellt: Anhänger eines Modells, das die Straßen in den Großstädten weitgehend vom Autoverkehr freihalten will und stattdessen ein perfektes System an Bussen und Bahnen vorsieht, dürften begeistert sein. Dies wäre dann ein Weg, den chronisch unterfinanzierten Öffentlichen Personen-Nahverkehr auf eine gesunde Basis zu stellen. Kritiker weisen darauf hin, dass man die nahezu autofreie Großstadt wohl nur dann erfolgreich anpreisen kann, wenn eine wichtige Bedingung erfüllt wird: Busse und Bahnen müssen so komfortabel, reibungslos und pünktlich ihre Dienste anbieten, dass für niemand damit größere Verzögerungen verbunden sind. Solange aber das aber nicht gewährleistet ist, bleibt das Auto für viele Berufsgruppen, die einen eng getakteten Terminkalender haben, ganz ohne Alternative. Von den Handwerkern und Gewerbetreibenden, die ihre Dienste ohne Auto gar nicht erfüllen können, ganz zu schweigen.
Finanzielle Hürde zum Umstieg fällt nicht schwer
Trotzdem ist es gut, dass die SPD im Unterbezirk Hannover ihren Vorschlag vorgelegt hat. Denn die Partei zwingt so die Menschen, sich endlich mal gründlich Gedanken über die Verkehrsströme in der Großstadt zu machen. Es geht hier wohl um eine Zwischenzeit – die in ihrer Länge und Ausprägung nicht genau einzuschätzende Phase, in der selbstfahrende Autos und Busse noch nicht existieren, in der man also noch wählen muss zwischen verschiedenen Verkehrsformen. In der Zukunft werden wir sicher irgendwann ein Taxi rufen, dass uns zuhause abholt, in die größere Stadt bringt und später dort wieder abholt – alles automatisch betrieben, ohne dass dieser Wagen einen der teuren Parkplätze nutzen muss. Aber bis zu dieser Zukunft kann es noch lange hin sein. 15 Jahre? 20 Jahre? 30 Jahre? Aber auch kurzfristig ist ein Handlungsbedarf vorhanden. Wenn wie derzeit die Anforderungen an die Luftqualität in Straßen mit hohem Verkehrsaufkommen (also in der Großstadt) steigen sollten, sind Überlegungen durchaus angebracht, noch mehr Menschen zur Nutzung der Alternative, also der Stadtbahnen, zu überzeugen. Und wenn jeder Autofahrer gezwungen sein wird, auch eine Jahreskarte für den Nahverkehr zu besitzen, fällt für ihn zumindest die finanzielle Hürde zum Umsteigen auf die Busse und Straßenbahnen nicht mehr schwer. Die wachsenden Einnahmen aus dem Ticketverkauf könnten genutzt werden, das ÖPNV-Angebot zu verbessern und noch attraktiver zu machen.
Mut zu unpopulären Gedanken
Sicher gibt es dagegen viele Gegenargumente – nicht zuletzt den Vorwurf, hier wolle man wieder über politische Auflagen Verkehrserziehung betreiben und die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Da ist sicher etwas dran. Aber die SPD wagt sich wenigstens mit einem zunächst überaus unpopulären Gedanken vor, das unterscheidet sie von populistischen Gruppierungen, die bei jeder ihrer Forderungen zunächst abchecken, ob sie damit in ihrer Anhängerschaft Beifall erheischen können.
Wie soll der Verkehr der Zukunft aussehen?
Im ungünstigen Fall wird die SPD für ihre Idee abgestraft und niemand will sich näher damit befassen. Dann heißt es, die Sozialdemokraten seien der Realität entrückt und bürgerfern geworden – trifft ihr Modell doch vor allem jene, die sich neben ihrem Auto kaum noch eine Jahreskarte für die Bahnen leisten können. Im günstigen Fall aber stößt die Partei eine Diskussion darüber an, wie die Verkehre in der Zukunft organisiert sein sollen. Ist es sinnvoll, dass sich täglich die Autos durch den Stau in der Großstadt quälen, nur langsam vorankommen, die Luft verpesten und manchmal große Umwege in Kauf nehmen müssen, weil alle Parkplätze belegt sind? Ist nicht ein Park-and-Ride-System, das diesen Namen verdient und attraktiv ist, die viel bessere Lösung? Woran liegt es, dass diese Systeme nicht richtig angenommen werden – nur an der Bequemlichkeit der Leute oder auch daran, dass die Städte sie nicht ernsthaft genug geplant und beworben haben?
Die Verkehrspolitik der Zukunft hat solche Diskussionen nötig – und die neue Initiative der SPD leistet dazu einen wichtigen Beitrag.
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CONTRA: Mit ihrem Vorschlag zementiert die SPD die verkehrspolitische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Auf der einen Seite gibt es die Abgehängten in den Vororten, auf der anderen Seite erleben wir in wenigen Großstädten die schöne neuen Welt des Carsharings und haben genügend Bus- und Bahnlinien. Die Idee ist unsozial, meint Martin Brüning.
Nur ein sinnvolles Argument
Die Idee kommt immer wieder einmal hoch. Warum nicht die Autofahrer für den öffentlichen Personennahverkehr in die Pflicht nehmen, um den Ausbau bei Bussen und Bahnen zu forcieren und somit mehr Pendler für den Umstieg zu gewinnen? Für diese Idee gibt es nur ein einziges sinnvolles Argument: es würde mehr Geld in den Stadtkassen landen. Ob sich damit beim ÖPNV wirklich nachhaltig etwas ändern würde, bleibt eher fraglich.
In den vergangenen Jahren hat sich wenig geändert
Die Zahl der Pendler, die mit dem Auto in die Städte fahren, ist auch in den vergangenen Jahren unverändert hoch geblieben. Während in der politischen Demoskopie inzwischen die Frage gestellt werden muss, ob’s eigentlich noch grüner geht, bleibt der Verkehrsalltag in diesem Land nahezu unverändert. Das Auto spielt nach wie vor eine große Rolle, die Staus in den Stoßzeiten machen deutlich, dass sich in den vergangenen Jahren wenig geändert hat. Die SPD in der Region Hannover will das Problem jetzt mit Brechstange lösen. Für diesen Vorschlag muss das Zitat von Altkanzler Helmut Schmidt, wer Visionen habe, der müsse zum Arzt, leicht angepasst werden. Für den SPD-Unterbezirksvorsitzenden Matthias Miersch und seine Rotlicht-Truppe gilt: Wer solche Visionen hat, muss zum Arzt.
Streckenausbau scheitert am Unvermögen
Ist es überraschend, dass der Vorschlag ausgerechnet aus den Reihen der Regions-SPD kommt? Die SPD stellt sowohl den Regionspräsidenten als auch den hannoverschen Oberbürgermeister. Sie wurde bei den Wahlen sowohl in der Stadt als auch in der Region stärkste Kraft. Für alles, was im Verkehr in der Region seit vielen Jahre schief läuft, trägt niemand anders die Verantwortung – das gilt auch für das teilweise peinliche und unprofessionelle Zusammenspiel von Stadt und Region, wenn es um den Ausbau des ÖPNV geht. Der Ausbau von Strecken scheiterte oftmals nicht am Geld, sondern vielmehr am Unvermögen. Auf ihr Konto geht die Minimal-Anbindung vieler Orte der Region an den öffentlichen Personennahverkehr, wo man an den Bushaltestellen nicht so genau weiß, ob man jetzt eigentlich lachen oder weinen soll. Vielen Pendlern zuerst nicht im geringsten die Möglichkeit zu geben, mit dem ÖPNV den Alltag zu meistern, um ihnen danach eine Zwangs-Jahreskarte für genau diesen aufs Auge zu drücken – das soll eine Vision sein? Mal abgesehen davon, dass man sich bei der Polizei inzwischen fragen dürfte, was man inzwischen eigentlich noch alles kontrollieren und wie das in der Praxis überhaupt funktionieren soll.
An der Stadtgrenze ist mit dem Shuttle Schluss
Mit ihrem Vorschlag zementiert die SPD die verkehrspolitische Zwei-Klassen-Gesellschaft. Auf der einen Seite gibt es die Abgehängten in den Vororten, Familien, denen gerade eine massive Entwertung ihrer Diesel-Autos zugemutet wird und denen die Stadt droht, ihnen bald wichtige Zufahrtsstraßen zu sperren. Auf der anderen Seite erleben wir in wenigen Großstädten die schöne neuen Welt des Carsharings, es gibt genügend Bus und Bahnlinien, und in Hannover kann man sich mit einer App ein VW-Shuttle bestellen, das gerade im Testbetrieb läuft. Übrigens: An der Stadtgrenze ist mit dem Shuttle natürlich Schluss. Wie will man den Wählern in der Region wohl erklären, dass man ihr Geld gerne nimmt, um ihnen irgendwann auch bessere Möglichkeiten zu geben, Busse und Bahnen zu nutzen. In Hannover-Waldhausen soll es einen neuen Umsteigebahnhof für die S-Bahn geben. Allerfrühestens im Jahr 2023 soll es soweit sein, heißt es. Wie könnte das Motto für das neue Zwangsticket lauten? Zahle jetzt den vollen Preis, fahre frühestens in fünf Jahren.
In Stuttgart war das Zwangs-Ticket vor einigen Monaten ebenfalls Thema. Hier schritten aber vor allem die Grünen voran. Die SPD dort wäre vermutlich nicht einmal auf die Idee gekommen, Familien zusätzlich mit mehreren hundert Euro zu belasten. Die Idee ist unsozial und hat nichts mit einer verkehrspolitischen Vision zu tun.