Drama von Harsum: Wie ein psychisch kranker Mann die Kommunalpolitik in Atem hält
Der Fall erregte bundesweit Aufsehen – und er beschäftigt seitdem sehr intensiv die Kommunalpolitik im Landkreis Hildesheim: Der 50-jährige Stefan M., der offenbar schwer psychisch krank ist, soll am 20. August 2022 von einer Brücke zwei Gullydeckel auf die Autobahn geworfen haben. Ein Auto aus Ludwigsburg wurde getroffen, die beiden Insassen erlitten schwere Verletzungen.
Der Bürgermeister von Harsum, dem Heimatort des Täters, reagierte entsetzt und sagte damals im Gespräch mit dem Rundblick: „Es ist schlimm, dass erst so etwas passieren muss, bevor gehandelt wird.“ Schon vorher nämlich habe er Hinweise auf die Gefährlichkeit des Mannes an die Behörden des Landkreises weitergeleitet – ohne dass etwas geschah. Das alles liegt nun ein halbes Jahr zurück. Aber der 50-Jährige, der damals unter dringendem Tatverdacht stand, ist inzwischen wieder auf freiem Fuß. Weil er doch nicht der Täter war? Die Ermittlungsbehörden schweigen dazu. Der Wurf der Gullydeckel ist nicht das einzige, das mit diesem Mann in Verbindung gebracht wurde. Er hat wiederholt Behörden und Kommunalpolitiker bedroht, aber bisher fehlte stets die Handhabe, ihn beispielsweise in eine geschlossene Einrichtung zu überweisen. War das Behördenversagen? Oder ist der Mann gar nicht so gefährlich, wie manche ihn darstellen? Der Fall bewegt die Kreispolitik in Hildesheim.
Stefan M. war schon vor der Tat dem Landkreis bekannt
Hier sind zunächst die Tatsachen: Stefan M. hat seit Anfang 2022 offenbar mehrfach den Harsumer Bürgermeister Marcel Litfin bedrängt und verbal attackiert, außerdem die Justizbehörden in Hildesheim. In einem Gutachten, das im März 2022 angefertigt wurde, ist von einer „schweren paranoiden Schizophrenie“ die Rede und von seiner „fehlenden oder verminderten Schuldfähigkeit“. Litfin hat geschildert, wie M. mindestens zweimal gedroht haben soll, auch unter Zeugen, er werde dem Bürgermeister „mit einem Hammer den Kopf einschlagen“. Im August 2022, wenige Tage vor dem Gullydeckel-Wurf, bat Litfin den Landkreis um eine Begutachtung von M. Dort jedoch wurde kein Handlungsbedarf gesehen, da der Bürgermeister keine akute Gefährdung genannt habe. Einen Tag nach dem Anschlag auf der Autobahnbrücke wurde M. in Untersuchungshaft genommen, gegen ihn bestand nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ein dringender Tatverdacht wegen versuchten Mordes.
Ende September 2022 wurde M. wieder aus der Untersuchungshaft entlassen, obwohl der Tatverdacht weiter vorhanden war. Nur „dringend“ war dieser nun nicht mehr. Warum? Wegen laufender Ermittlungen äußert sich die Staatsanwaltschaft dazu nicht. Womöglich liegt es an der Aufzeichnung einer Videokamera, die bei den Ermittlern Zweifel weckte: Fünf Minuten nach dem Notruf, der nach dem Aufprall des Gullydeckels auf den Wagen eingegangen war, wurde M. dabei gefilmt, wie er drei Kilometer vom Tatort entfernt auf sein Grundstück fuhr. Wie hätte er, sagte M. später gegenüber einer Boulevard-Zeitung, auf dem Rad diese Strecke in der kurzen Zeit schaffen können? Auf der anderen Seite: Eine andere Person ist seither nicht in Verdacht gekommen. Seltsam ist auch der Hinweis auf die Kamera-Aufzeichnung, die fünf Minuten nach dem Notruf datierte. Der Notruf konnte erst nach dem Unfall abgesendet worden sein. Dann könnten es also doch mehr als fünf Minuten gewesen sein, die zwischen der Filmaufnahme und der Tat liegen. Ist M. also in Wirklichkeit gar nicht entlastet? Oder hat man ihn vorgeführt, in eine Falle gelockt?
Harsumer Bürgermeister wirft Behörde „Staatsversagen“ vor
Dieses Vorkommnis trifft im Kreis Hildesheim auf eine interessante politische Konstellation. Harsums Bürgermeister Litfin ist verärgert darüber, dass der Landkreis seine frühen Hinweise auf die von M. ausgehenden Gefahren ignoriert habe, er spricht sogar von „Staatsversagen“. Auch der CDU-Kreistagsfraktionschef Friedhelm Prior, aufmerksamer und kritischer Begleiter der Arbeit von Landrat Bernd Lynack (SPD), hakte nach und begann, die Kreisverwaltung zu nerven. Er sah in der Kommunalverfassung keine Alternative zu dem Weg, den Kreisausschuss als zweithöchstes Organ nach dem Kreistag mit der Angelegenheit zu betrauen. Doch Lynack meinte, es gehe hier um das „Geschäft der laufenden Verwaltung“, da hätten die ehrenamtlichen Kommunalpolitiker nicht mitzureden. Dieser Streit läuft parallel zum eigentlichen Fall, nämlich der Frage, wie mit M. umzugehen ist. Und noch etwas heizt die Debatte an: Bürgermeister Litfin, der sich nicht nur von M., sondern noch von zwei weiteren Personen im Ort bedroht fühlt, beantragte einen Waffenschein. Der Landkreis lehnte das ab, Litfin klagte und das Verwaltungsgericht bestätigte diese Entscheidung: Eine besondere Gefährdung des Bürgermeisters liege nicht vor. Das sieht Litfin nun nach wie vor ganz anders.
Als M. am 29. September aus der Untersuchungshaft entlassen wurde, hatte sich der Fall das erste Mal zugespitzt. Die Behörde von Landrat Lynack entschied, dass M. vorläufig in ein Heim eingewiesen wird. Doch das Gericht, das erst am Folgetag darüber befinden konnte, folgte dem Antrag des Landkreises auf Unterbringung nicht – denn eine gegenwärtige erhebliche Gefahr, die zur Begründung dafür nötig gewesen wäre, sahen die Richter nicht. Sie fügten hinzu, dass eine Unterbringung in einer Einrichtung nur dann zwingend wäre, wenn die Schuld M.s bewiesen sei. Aber das war nicht der Fall, es waren ja inzwischen Zweifel an seiner Täterschaft aufgetaucht. Aber sind diese Zweifel überzeugend? Was hat Landrat Lynack falsch gemacht? Prior meint, einer der Fehler liege in einem Versäumnis der Kreisverwaltung: Schon vor dem 29. September, also noch in der Zeit, als M. in Untersuchungshaft saß, hätte ein neues Gutachten angefertigt werden müssen, das vor allem auf die Gefahr hätte ausgerichtet sein müssen, die von M. in der Zukunft ausgehen kann. Die bisher vorliegenden gutachterlichen Einschätzungen hätten eben nicht ausgereicht – und das hätte die Kreisverwaltung bemerken und gegensteuern müssen. Prior betont außerdem: „Es wäre Aufgabe des Kreisausschusses gewesen, dieses Gutachten in Auftrag zu geben. Aber der Landrat hat den Kreisausschuss ja daran gehindert, einen solchen Beschluss zu fassen.“ Vergangenen November hat die Staatsanwaltschaft Hildesheim beim Amtsgericht eine neue Anklage gegen M. erhoben – wegen „Störung des öffentlichen Friedens“. Prior wundert sich, warum das erst so spät geschieht, nämlich neun Monate nach den Bedrohungen, die M. Ende März ausgesprochen haben soll.
Stefan M. ist 140 mal polizeilich aufgefallen
Wie geht nun eine Kommune um mit einem Mann, der Menschen in seiner Umgebung bedroht und verbal attackiert, der offenbar unter einer schweren psychischen Störung leidet und vor dem viele in seiner Nachbarschaft Angst empfinden? Was den Wurf des Gullydeckels angeht, ist der Ablauf wohl tatsächlich noch nicht geklärt. Aber eindeutig scheint zu sein, dass in Harsum einige Leute in Furcht vor M. leben, sich nicht nur belästigt, sondern in ihrer Freiheit beeinträchtigt fühlen. Prior meint, der Landkreis habe nicht entschlossen und frühzeitig gehandelt, daher sei viel Zeit vergangen – und der jetzige Zustand sei höchst unbefriedigend. Litfin wundert sich, dass bisher kein psychiatrisches Gutachten vorliegt, aus dem die von ihm gespürte Gefahr hervorgeht. Aus Priors Sicht ist die Bedeutung des Vorfalls so groß, dass Landrat Lynack die Sache längst an den Kreisausschuss hätte übertragen müssen.
Der CDU-Politiker hat das Sozialministerium und das Innenministerium eingeschaltet – doch die erhoffte Rückendeckung von dort für seine Kritik am Landrat blieb bisher aus. Der Landkreis unterdessen lässt über seine Sprecherin erklären, er sehe in diesem Fall bei sich „keine Versäumnisse“. Das Sozialministerium habe das bestätigt, ebenso eine unabhängige „Besuchskommission“, die sich mehrere Stunden lang intensiv mit den Akten in diesem Fall beschäftigt habe. Der Sozialpsychiatrische Dienst des Kreises habe sich hier „nichts vorzuwerfen“, das hätten die unabhängigen Prüfer von der „Besuchskommission“ bestätigt.
Inzwischen zieht dieser Fall bundesweit immer weitere Kreise. Während in Deutschland darüber gesprochen wird, wie frustrierend die Lage für Amtspersonen ist, die wegen ihrer Rolle angefeindet und bedroht werden, zeigt sich im Fall Harsum etwas anderes: Selbst wenn man meint, einen Unruhestifter klar benennen und ihm Bedrohungen nachweisen zu können, fällt es den staatlichen Institutionen unglaublich schwer, daraus die angemessenen Schlüsse zu ziehen.
Dieser Artikel erschien am 23.02.2023 in der Ausgabe #034.
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