„Die Talfahrt ist zu Ende“: Chemie- und Pharmabranche hegt wieder Zuversicht
Die Nachfrage stagniert, die Konjunktur lahmt, das Vertrauen in die Politik sinkt: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland sieht im Sommer 2024 nicht gerade rosig aus. Aber gilt das auch für Niedersachsen? In einer kleinen Sommerreihe werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Wirtschaftsbranchen des Landes. Heute: Chemie, Pharma und Life Science.
In der ersten Jahreshälfte 2024 lief es für die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland besser als gedacht. „Es gibt einen Silberstreif, aber von einem stabilen Aufwärtstrend kann keine Rede sein. Die leichten Anzeichen der Erholung sind kein Grund zum Jubeln“, sagt Markus Steilemann, Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI). Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum legte die Produktion um drei Prozent zu, befindet sich aber immer noch elf Prozent unter dem Vorkriegsniveau von 2021.
Problematisch ist auch, dass sich die Mehrarbeit für die Unternehmen in Summe nicht auszahlt: Der Branchenumsatz sank trotz Produktionsplus auf 112 Milliarden Euro (minus ein Prozent), weil die Erzeugerpreise schwächeln. „Wir haben zwar die Produktion hochgefahren, unsere Anlagen laufen aber nach wie vor nicht rentabel, und das seit über zweieinhalb Jahren“, betont Steilemann, der den Dax-Konzern Covestro leitet, der aus der ehemaligen Kunststoffsparte der Bayer AG hervorgegangen ist. Laut VCI-Berechnungen liegt die Kapazitätsauslastung in der Chemie- und Pharmaindustrie mit 79 Prozent weiterhin deutlich unter der Rentabilitätsgrenze, die zwischen 82 und 85 Prozent zu verorten ist.
Energiepreise und Bürokratie machen Sorgen
Abgesehen von der Fein- und Spezialchemie, die unter der schwachen Industriekonjunktur leidet, geht es in allen Sparten wieder aufwärts. Sogar das Pharmageschäft sei zurück auf dem „normalen Wachstumstrend“. Einer aktuellen VCI-Mitgliederumfrage zufolge sagen 29 Prozent der Unternehmen: Die Erholung des Chemiegeschäfts ist bereits eingetreten. 50 Prozent der Befragten glauben, dass es im zweiten Halbjahr 2024 oder im kommenden Jahr aufwärts geht. 21 Prozent unken, dass vor 2026 kein Aufschwung zu erwarten sei.
„Die Signale leichter Entspannung dürfen aber den Blick auf die Standortprobleme nicht verstellen: Neben fehlenden Aufträgen bereiten uns die Energiepreise und die Bürokratie die größten Sorgen“, sagt Steilemann. Der VCI fordert daher Entlastungen bei der Stromsteuer und den Netzentgelten, eine Senkung der Unternehmens- und Körperschaftssteuer sowie die Abschaffung des Solidaritätszuschlags. Auf der anderen Seite müsse der Staat mehr in Bildung, Sicherheit und Infrastruktur investieren. Als drittes Maßnahmenpaket spricht sich die Branche für weniger Bürokratie auf nationaler und EU-Ebene aus, um mehr Investitionsanreize zu schaffen.
Russland-Sanktionen verzerren den Wettbewerb
Ein weiteres Branchenproblem schildert das Spezialchemieunternehmen H&R Group aus Salzbergen (Landkreis Emsland). Durch die EU-Sanktionen gestalte sich die Rohstoffversorgung schwierig. Die derzeit in den Produktionsstandorten Salzbergen und Hamburg eingesetzten Alternativstoffe seien teurer und von schlechterer Qualität. „Erschwerend kommt hinzu, dass Konkurrenz aus EU-Nachbarstaaten weiterhin russisches Öl importieren und weiterverarbeiten dürfen. Auch Nicht-EU-Staaten verarbeiten solche Einsatzstoffe und liefern die Fertigprodukte an den europäischen Markt. Dies stellt einen klaren Wettbewerbsnachteil für unser Unternehmen dar“, heißt es im kürzlich veröffentlichten Finanzbericht für 2023. Der Konzerngewinn nach Steuern lag im vergangenen Geschäftsjahr bei H&R dementsprechend auch nur bei 10,6 Millionen Euro – bei einem Umsatz von 1,35 Milliarden Euro.
US-Firma Dow investiert auch in den Standort Deutschland
Den widrigen Bedingungen zum Trotz investieren einige Chemiefirmen dennoch in den Standort Deutschland. Der US-amerikanische Chemieriese Dow ist als Gesellschafter der Hanseatic Energy Hub (HEH) ganz wesentlich am Bau des ersten landbasierten LNG-Terminals in Stade beteiligt. Ende Juni wurde der offizielle Spatenstich für das Milliarden-Projekt gesetzt, durch das ab 2027 bis zu 13,3 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas pro Jahr ins Netz eingespeist werden können. „Das Terminal bietet viele Synergien für unser Werk. So werden wir beispielsweise die Abwärme der Produktionsanlagen nutzen können, um das Flüssiggas emissionsfrei zu regasifizieren“, sagt Dow-Deutschlandchefin Julia S. Schlenz.
In Stade produziert das Unternehmen etwa vier Millionen Tonnen Chemiegüter pro Jahr, insbesondere Chlor. Außerdem hat Dow vor wenigen Wochen am Standort Ahlen (Nordrhein-Westfalen) eine neue Produktionslinie für Klebstoffe und thermisch leitfähige Pasten in Betrieb genommen, die für die Montage von Elektrobatterien benötigt werden. „Für uns ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um in die Produktion von Materialien für E-Mobilität zu investieren, denn bis 2030 wird mehr als jeder vierte neu verkaufte Pkw ein Elektrofahrzeug sein“, so Schlenz.
Symrise will noch mehr Firmen übernehmen
Niedersachsens größter Life-Science-Konzern, die Sartorius AG aus Göttingen, hat zum Jahresbeginn ebenfalls ein deutliches Auftragswachstum verzeichnet. Ob sich die Erwartung an eine „unterjährig zunehmenden Geschäftsdynamik“ erfüllt hat, wird Konzernchef Joachim Kreuzburg bei der Halbjahresbilanz am 19. Juli verraten. Bei der ebenfalls Dax-notierten Symrise AG aus Holzminden ist dagegen bereits sicher: Es geht weiterhin bergauf. Der Duft-, Aroma- und Kosmetikhersteller erwartet in diesem Jahr ein natürliches Wachstum von fünf bis sieben Prozent. Zudem denkt Symrise über weitere Unternehmenszukäufe insbesondere im Bereich Geschmack, Ernährung und Heimtiernahrung nach.
„Unser langfristiger Blick bei den Übernahmen zahlt sich aus, wir haben die richtigen Zukäufe getätigt und unsere Position im Markt gestärkt. Ich versichere Ihnen: genau das werden wir auch weiter tun“, versprach der neue Vorstandsvorsitzende Jean-Yves Parisot den Aktionären bei der jüngsten Hauptversammlung. 270 Millionen Euro hat Symrise in den vergangenen beiden Jahren in Ausbau und Verbesserung der Produktion investiert. „Unsere kontinuierlichen Investitionen gerade auch in unsere Infrastruktur ermöglichen es uns, unsere Geschäftspotenziale konsequent auszuschöpfen – und das weltweit“, sagte Parisot. Bis 2025 will das Unternehmen sogar 600 Millionen Euro in den Ausbau investieren. In den USA, Mexiko, Spanien und Frankreich sind neue Werke geplant. Produktionserweiterungen stehen in Mexiko und Deutschland auf der Liste.
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