Sie ist eine der wichtigsten Wahlen in diesem Jahr in Deutschland – und doch weiß kaum jemand darüber wirklich Bescheid. Im April und Mai sind „Sozialwahlen“ – neu bestimmt werden für die nächsten sechs Jahre die Vertreterversammlungen mehrerer Krankenkassen und der Deutschen Rentenversicherung Bund, der früheren Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Doch rund um diese Wahlen, zu deren Teilnahme übrigens 51 Millionen Versicherte in Deutschland aufgerufen sind, gibt es mehrere Merkwürdigkeiten: Erstens herrscht Unwissenheit, was diese Gremien, die neu zusammengesetzt werden, wirklich zu entscheiden haben. Zweitens fällt es sehr schwer, in den Programmen der verschiedenen zur Wahl stehenden Listen gravierende Unterschiede festzustellen. Man hat den Eindruck, dass alle ziemlich einig sind. Drittens ist von einem Wahlkampf, einem echten Ringen um das Für und Wider zu bestimmten Streitfragen, nichts zu spüren.

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Es kommt noch etwas Erschwerendes hinzu: Mehrere Rentenversicherungen in Deutschland, auch die in Niedersachsen, verzichten ebenso wie viele Krankenkassen (auch die AOK) auf die Wahlen, für sie gilt die sogenannte „Friedenswahl“: Es treten so viele Kandidaten an wie es freie Plätze gibt. Kritiker wie der Bremer Politikwissenschaftler Bernard Braun sehen das ausgesprochen kritisch, weil damit eine Erneuerung der Gremien erschwert wird – und die bisherigen Gruppen vom DGB, von unabhängigen Listen und Spartengewerkschaften ihre Machtstellung auf Dauer absichern. Manche Kritiker reden gar von „Mauschelei“. Das gilt für die Arbeitnehmerseite in den Vertreterversammlungen, die 50 Prozent ausmachen. Auf der Arbeitgeberseite, ebenfalls 50 Prozent, finden sowieso keine Wahlen statt, hier werden die Vertreter seit eh und je delegiert. Ist also die Sozialwahl ein Relikt aus alten Zeiten, weil die Parlamente der Renten- und Krankenversicherungen ohnehin nicht viel zu entscheiden haben – und weil sich alte Seilschaften dort sowieso immer nur gegenseitig bestätigen?

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Dieser Eindruck täuscht. Denn es gibt viele gute Argumente für die Teilnahme an der Sozialwahl. Zwar ist es tatsächlich so, dass beispielsweise in der Rentenversicherung die wichtigsten Entscheidungen sowieso von Bundestag und Bundesrat per Gesetz festgelegt werden: der Rentenbeitrag, die Rentenhöhe und das Renteneintrittsalter. Aber der Etat der Rentenkassen ist so groß, dass daneben viel Spielraum für große Investitionen bleibt. Welche Angebote gibt es für Rehabilitationen? Wie viele Beratungsstellen werden angeboten? Wo werden neue Kliniken gebaut? Wer überprüft die Einsprüche gegen Rentenbescheide? Der Sprecher der Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, Wolf-Dieter Burde, spricht hier vom „segensreichen Wirken der Selbstverwaltung“. Dort würden viele engagierte Leute sitzen, die sich um die Details der Rentenpolitik kümmern. Gäbe es sie nicht und wäre die Rentenversicherung nur verlängerter Arm der Sozialministerien von Bund und Ländern, dann würde vieles bürokratischer sein, fürchtet er. Unterstützung für diese Haltung kommt vom Bund der Steuerzahler. Landesvorsitzender Bernhard Zentgraf sagt dem Rundblick: „Es mangelt an Alternativen. Staatliche Sozialversicherungsbehörden erscheinen nicht sinnvoll.“

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Anders beurteilt der Bremer Politologe Bernard Braun die Situation, der sich seit vielen Jahren mit den Sozialwahlen befasst und über eine Dominanz von Gewerkschaften und alteingesessenen berufsständischen Gruppierungen klagt. Gerade bei den Krankenkassen, so meint Braun im Gespräch mit dem Rundblick, wirke sich das über die Jahre negativ aus. Diese Gremien stammten traditionell aus der Arbeits- und Berufswelt – und der Blick sei sehr stark darauf ausgerichtet. „Was daneben besteht, nämlich die Welt der Kinder, der Frauen, der Studenten und der Rentner, wird oft nicht ausreichend wahrgenommen“, sagt Braun. Das fange damit an, dass die Vertreterversammlungen der Krankenkassen eine Über- oder Fehlversorgung nicht richtig aufklären könnten. Beispielsweise die Tatsache, dass viel zu häufig eine kieferorthopädische Behandlung von Kindern verordnet werde oder eine Kaiserschnitt-Geburt. Gerade bei Gewerkschaftsvertretern bestehe hier oft kein Interesse an Kostendämpfung – da es die Beschäftigung in den Krankenhäusern sichere. „Das Nicht-Handeln ist ein riesiges Problem der Selbstverwaltung“, meint der Politologe.

Die beklagte Übermacht der Gewerkschaften ist allerdings relativ, denn beispielsweise im Parlament der Rentenversicherung Bund sind die DGB-, Verdi- und IG-Metall-Listen zusammen seit Jahren in der Minderheit, stärkste Gruppe ist hier eine „BfA-DRV-Gemeinschaft“, die ursprünglich klar gewerkschaftskritisch ausgerichtet war, mittlerweile aber inhaltlich kaum Unterschiede etwa zur Verdi-Liste hat, wie Spitzenkandidat Hans-Werner Veen gegenüber dem Rundblick offen zugibt. Aber auch wenn es gegenwärtig nicht geschieht, so ist doch das System der Sozialwahlen durchaus darauf angelegt, einen richtig spannenden Wahlkampf zu ermöglichen. Die Bundeswahlbeauftragten für die diesjährige Sozialwahl, Rita Pawelski und Klaus Wiesehügel, wünschen sich das auch. „Ich streite dafür, dass noch viel mehr Versicherungen Sozialwahlen abhalten. Nur so kann es eine Belebung geben“, sagt Pawelski im Gespräch mit dem Rundblick.

Wie Braun berichtet, hat es nach der Sozialwahl vor sechs Jahren ernsthafte Bemühungen gegeben, die „Friedenswahl“ zu unterbinden und eine echte Wahl überall vorzuschreiben. Auch eine Frauenquote sollte festgelegt werden, damit die Vertreterversammlungen weiblicher werden. Geworden ist allerdings nichts daraus. Wie es heißt, hat die CDU sich mit ihrem Nein zur Friedenswahl bei der SPD nicht durchgesetzt, da die Gewerkschaften die Friedenswahl gar nicht so kritisch sehen. Die SPD konnte mit der Frauenquote bei der Union nicht punkten, da dies kein Kernanliegen der Christdemokraten ist. Also ändert sich zunächst nichts. Jedenfalls noch nicht. (kw)