Die Linkspartei wird jünger, rebellischer und auch unberechenbarer
Im Landtag in Hannover ist die Linkspartei nicht vertreten, im Bundestag ist eine rot-rot-grüne Mehrheit derzeit nicht möglich. Ein Thema, das früher dauerhaft für leidenschaftliche Debatten in der Linkspartei sorgte, hat damit an Kraft und Bedeutung enorm eingebüßt: Soll die Linkspartei eine Regierungsbeteiligung gemeinsam mit SPD und Grünen anpeilen? 180 Delegierte des niedersächsischen Landesverbandes trafen sich am Wochenende zum Parteitag in Hannover, und die Frage der Kooperation mit anderen linken Parteien spielte diesmal keine Rolle. Dass sich die Genossen einig wären, kann man trotzdem nicht sagen – unter der Oberfläche brodeln einige Streitigkeiten weiter. Wieder ist es der Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren.
Gegen die „imperialistische Einmischung“ in Venezuela
Das wurde an diesem Wochenende deutlich in einer Debatte zur Europapolitik – und auch in der Personalpolitik. Zunächst zur Europapolitik. Erst acht Tage ist es her, dass die Linke bundesweit ihre europapolitischen Positionen festlegte. Das ging auch deshalb harmonisch zu, weil die heftigen Kritiker an der EU auf dem Bundesparteitag in Bonn nicht wortgewaltig aufgetreten waren, sondern eher unauffällig blieben. Die Linken-Bundesvorsitzende Katja Kipping, eine Pro-Europäerin, trat jetzt als Gastrednerin auf dem Landesparteitag in Hannover auf – und zeigte sich im Grußwort dabei höchst zufrieden, wie stark sich alle maßgeblichen Kräfte in der Linkspartei doch für ein solidarisches Europa einsetzten.
Doch in der Aussprache wenige Stunden später zeichnete der Linken-Bundestagsabgeordnete Diether Dehm, einer der mächtigsten Leute im Landesverband, ein anderes Bild der Lage: Die EU-Verträge verpflichteten „zu Aufrüstung, Wettbewerb und Raubtierkapitalismus“, die EU mache „die Straßen panzerfähig in Richtung russischer Grenze“, gegenwärtig traue sich die Bundespartei aber nicht, solche Wahrheiten auszusprechen. Sogar ein Antrag „zur Solidarität mit Venezuela“ sei beim Bonner Europa-Bundesparteitag „erfolgreich an den Rand gedrängt“ worden. Dehm meint bei „Solidarität mit Venezuela“ allerdings nicht die Unterstützung für das unterdrückte Volk, sondern eher Solidarität mit dem Diktator Nicolas Maduro. Ein flügelübergreifender Antrag beim Landesparteitag, den fast alle führenden Linken-Landespolitiker mitzeichneten, verurteilt „die imperialistische Einmischung in die Länder Lateinamerikas, wie sie gegenwärtig in Venezuela insbesondere durch die USA, aber auch durch die Staaten der EU erfolgt“.
Die Zahl der Mitglieder steigt
Andere werden noch deutlicher als Dehm. Andreas Braendle aus Hannover prangert einen „deutschen Imperialismus“ an und bezeichnet die EU unter dem Beifall vieler Delegierter als „militaristisch, neoliberal und undemokratisch“ – und er fordert eine stärkere Hinwendung zu Bürgerbewegungen, wie sie sich gegen die Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA schon formiert gehabt hätten. Die Flüchtlingsfrage, die oft schon zu Meinungsverschiedenheiten in der Linkspartei geführt hatte, spielt bei diesem Landesparteitag keine große Rolle – auch nicht der Kampf um die Frage, ob die Zuwanderung nach Deutschland geregelt oder ungebremst sein sollte. Die Linie der Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, nicht alle Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen zu dürfen, wird beim Parteitag nicht in den Mittelpunkt der Debatten gerückt. Wie überhaupt die Wagenknecht-Währung gegenwärtig zu schwächeln scheint. Lediglich zwei Delegierte tragen die „Gelben Westen“, ein von Wagenknechts Bewegung „Aufstehen!“ entliehenes Symbol des französischen Protestes.
Jenseits der Konflikte ist in der niedersächsischen Linkspartei derzeit viel in Bewegung. Seit Mai 2017 hat die Partei zwar 500 Mitglieder verloren, gleichzeitig aber 870 hinzugewonnen – sodass es insgesamt derzeit mehr als 3100 sind, Tendenz weiter steigend. Die Masse der Neueintritte ist jünger als 35, und das hat in vielen Orts- und Kreisverbänden das gewohnte Bild der Mitgliedschaft stark aufgefrischt. Allerdings ist es der Linkspartei bisher nicht sehr gut gelungen, die Leute lange zu halten. Außerdem häufen sich organisatorische Defizite, wie der scheidende Landesgeschäftsführer Michael Braedt schonungslos berichtete: Ein Viertel der Kreisverbände nehme ihre Kassenführung nicht selbst wahr, brauche also Unterstützung der Landesgeschäftsstelle. Die Streitbereitschaft scheint das aber nicht zu lähmen – Niedersachsen sei bei den Schiedsgerichtsverfahren auf Bundesebene mit 20 Prozent der Spitzenreiter. „Die verdammten Eitelkeiten und persönlichen Animositäten müssen aufhören“, forderte Braedt eindringlich in seinem Rechenschaftsbericht.
Streit um die Personalie des Landesgeschäftsführers
Immerhin dürfte das neue Führungsduo der Linken wohl harmonieren. Die 53-jährige Anja Stoeck aus Harburg zieht sich nach vier Jahren von der Spitze zurück. Künftig teilen sich der 41-jährige Großhandelskaufmann Lars Leopold aus Alfeld und die 30-jährige Projektkoordinatorin Heidi Reichinnek aus Osnabrück die Leitung des Landesverbandes. Beide sind in Ostdeutschland aufgewachsen, Leopold im Mecklenburger Land und Reichinnek im Raum Halle/Saale. Sie werden ergänzt von einem Landesgeschäftsführer, der künftig hauptamtlich die Geschäfte leiten soll. An dieser Personalie schieden sich bei der niedersächsischen Linkspartei im Vorfeld die Geister – wobei es weniger um einen Richtungskampf, wohl aber um das Temperament und die Netzwerke geht.
Ein Bündnis aus den gemäßigten Kräften und den „Sozialistischen Linken“ um den Strippenzieher Diether Dehm schickte den Hannoveraner Johannes Drücker ins Rennen, den neuen Kreisvorsitzenden aus Hannover. Eine andere Gruppe unterstützte David X. Noack aus Verden, der als Kompromisskandidat gehandelt wurde. Die dritte Gruppe der „antikapitalistischen Linken“, die deutlich radikaler und systemverändernder auftritt, hatte Zustimmung zum Bewerber Christoph Podstawa aus Lüneburg signalisiert. Der aber, heißt es intern, sei ein Populist und Scharfmacher, dem jegliche Abgewogenheit fehle. Das könne ein Stellvertreterkampf um Macht und Einfluss von Diether Dehm werden, vermuteten einige Delegierte. Am Ende wurde der intern höchst umstrittene Podstawa gewählt – mit hauchdünnem Vorsprung von 92 zu 90 gegenüber Drücker in der Stichwahl. (kw)