„Die Grünen wollen keine Systemveränderung. Wir schon.“
Heidi Reichinnek (31), ist seit März eine der beiden Landesvorsitzenden der Linken in Niedersachsen. Sie stammt aus Obhausen im Saalekreis in Sachsen-Anhalt, arbeitet derzeit in einem Bildungsprojekt der ökumenischen Jugendhilfen und engagiert sich seit drei Jahren für ihre Partei im Rat der Stadt Osnabrück. Beim Besuch der Redaktion des Politikjournals Rundblick erläuterte sie, warum die Politik der Grünen aus ihrer Sicht nur halbherzig ist.
Rundblick: Die Grünen treten mit Forderungen zum Klimaschutz auf, die viel radikaler sind als die der anderen Parteien. Das müsste Ihnen doch gefallen, oder?
Reichinnek: Nein. Viele Forderungen der Grünen klingen sinnvoll und angebracht. Was mich an dieser Partei stört, ist der Ansatz. Die Grünen verknüpfen die ökologische Frage nicht mit der sozialen Frage. Sie wollen eine Verhaltensänderung der Verbraucher – nicht der Produzenten. Das sehen wir als Linke ganz anders.
Die Grünen verknüpfen die ökologische Frage nicht mit der sozialen Frage. Sie wollen eine Verhaltensänderung der Verbraucher – nicht der Produzenten.
Rundblick: Wie denn?
Reichinnek: Vielleicht erläutere ich das an einem Beispiel. Die Grünen wollen die CO2-Besteuerung auf Benzin. Das wirkt sich auf die Menschen aus: Wenn sie Auto fahren wollen, müssen sie mehr bezahlen. Für die Gutverdiener mag das ja gehen, aber was ist mit den Pendlern, die gar keine Wahl haben und ihr Auto nutzen müssen, um zur Arbeit zu kommen? Das Angebot an Bussen und Bahnen wurde ausgedünnt, es kostet ewige Zeit, bis alte Bahnstrecken reaktiviert werden, die Taktzeiten der Busse sind mancherorts miserabel. Welche Alternative hat nun dieser Pendler? Gar keine, er muss mehr zahlen. Wir wollen etwas anderes.
Rundblick: Sie wollen die Großkonzerne unter Druck setzen?
Reichinnek: Wir wollen ihnen Auflagen erteilen. Volkswagen hat im vergangenen Jahr einen Gewinn von 12,1 Milliarden Euro erzielt. Aber hat der Konzern etwas getan, die von ihm getäuschten Kunden angemessen zu entschädigen? Nein, hat er nicht. Kein Wunder, wenn die Politik darauf verzichtet, den Konzernen etwas vorzugeben. Dann hört man immer, solche Auflagen würden Arbeitsplätze gefährden. Da frage ich mich: VW baut doch sowieso schon Stellen ab. Für die Niedersachsen-Vertreter im VW-Aufsichtsrat wäre es wichtig, dass sie das Unternehmen zwingen, die Beschäftigten frühzeitig zu schulen für neue Aufgaben, etwa für neue Antriebstechnologien wie E-Mobilität oder Wasserstoff.
Wenn die Produktion klimaschädlich ist, muss sie eingegrenzt werden. Wenn wir Überproduktion haben, ist das schädlich für das Klima und die Wirtschaft.
Rundblick: Bleibt die Frage, ob bei einem Konfrontationskurs zu den Großunternehmen nicht die Gefahr besteht, dass die Firmen ins bequemere Ausland abwandern – oder wegen der vielen Auflagen so unwirtschaftlich werden, dass die Billigkonkurrenz aus dem Ausland sie vom Markt verdrängen…
Reichinnek: Es geht ja nicht um Auflagen der Auflagen willen – sondern um bestimmte Ziele. Wenn die Produktion klimaschädlich ist, muss sie eingegrenzt werden. Wenn wir Überproduktion haben, ist das schädlich für das Klima und die Wirtschaft. Und es gibt Wirtschaftskreisläufe, die unsinnig sind und reguliert werden müssen. Dass Nordseekrabben nach Marokko exportiert werden, weil sie dort billiger gepult werden können, und dann zurückgebracht werden, ist ökologischer und wirtschaftlicher Unsinn. Die Massentierhaltung ist es auch. Wenn Sie die Leute auf der Straße fragen, will niemand diese Zustände gut heißen. Solchen Entwicklungen müssen wir den Riegel vorschieben.
Es geht nicht um Abschottung oder Protektionismus, sondern um Regulierung.
Rundblick: Das hieße aber, den freien Handel mit Zollfreiheit zu opfern. Wie wollen Sie sonst verhindern, dass die hohen Auflagen für die hiesigen Betriebe, die höhere Produktionskosten verursachen, zu einer Benachteiligung auf dem Markt führen? Das geht doch nur, wenn man der ausländischen Billigkonkurrenz den Weg auf den deutschen Markt erschwert, oder?
Reichinnek: Es geht nicht um Abschottung oder Protektionismus, sondern um Regulierung. Niemand kann daran gelegen sein, dass Kleidungsstücke, die unter menschenunwürdigen Umständen in Bangladesch hergestellt werden, hier zu Spotpreisen verkauft werden. Auch das System der Agrarsubventionen, das die Großen belohnt und die ökologische Landwirtschaft bestraft, ist alles andere als sinnvoll. Wir treten daher für Änderungen des Wirtschaftssystems ein. Wo der freie Handel nur den Profitinteressen der Großkonzerne nützt, muss er eingeschränkt werden.
Lesen Sie auch:
Mehr Klimaschutz in Gebäuden: Grüne nehmen Kampf gegen Ölheizungen auf
Rundblick: Sie hadern also mit unserem System?
Reichinnek: Ja, mit dem Wirtschaftssystem – und das ist ja auch nicht durch das Grundgesetz geschützt. Wir glauben nicht an den grünen Kapitalismus. Eine Wirtschaft, die auf konstantes Wachstum ausgerichtet ist, kann nicht ökologisch oder sozial sein. In der Bewegung „Fridays for Future“, die für uns Linke eine wichtige Stütze ist, wird das ja schon erkannt.
Rundblick: Meinen Sie, dafür mit SPD und Grünen irgendwann eine Mehrheit zu bekommen?
Reichinnek: Es ist unsere Position – und wir müssen sehen, wie die anderen sich entwickeln. Bei den Sozialdemokraten kenne ich einige wenige überzeugte Linke, die das so sehen wie wir. Aber es sind zu wenige und sie sind zu leise. Bei den Grünen ist es im Grunde ähnlich. Immer in Oppositionszeiten äußern sich SPD und Grüne sozialer als in Zeiten, in denen sie regieren.
Die Grünen verstehen unter mehr Ökologie, dass die Verbraucher das bezahlen sollen. Außerdem sind sie opportunistisch.
Rundblick: Also haben Sie keine Nähe zu den Grünen?
Reichinnek: Die Grünen verstehen unter mehr Ökologie, dass die Verbraucher das bezahlen sollen. Außerdem sind sie opportunistisch. Die protestieren gegen die Abholzung im Hambacher Forst, die sie selbst vorher beschlossen hatten. Sie demonstrieren in Niedersachsen gegen das Polizeigesetz, haben aber vorher an einer Verschärfung schon mitgewirkt. Wenn es darum geht, ökologische Politik mit neuen Steuern zu finanzieren, einer Vermögenssteuer, einer Erbschaftssteuer oder einer Finanztransaktionssteuer, dann knicken die Grünen ein. Ich hoffe sehr, dass unsere Partei sich nicht auch mal so entwickeln wird.