Soll man nach Arbeit und Wohnung, Tierschutz und Klimaschutz noch ein Staatsziel in die Landesverfassung schreiben, nämlich „die individuelle und gesellschaftliche Wohlstandsmehrung“? Die FDP-Landtagsfraktion hat das vorgeschlagen, doch eine erste Debatte im Landtag am gestrigen Mittwoch zeigte rasch, wie wenig Erfolgsaussichten der Vorstoß haben wird. Alle anderen Fraktionen sprachen sich dagegen aus, sogar von den fraktionslosen Mitgliedern, die einst die AfD-Fraktion bildeten, können die Freien Demokraten keine Unterstützung erwarten. Die Begründungen sind allerdings durchaus unterschiedlich, und in der Diskussion darüber wurde auch das Thema „Schuldenbremse“ angesprochen, das jüngst zu einem CDU-internen Kräftemessen geführt hatte. Die Schuldenbremse als Neuverschuldungsverbot des Staates, die im Grundgesetz und in der Landesverfassung steht, wird von der niedersächsischen CDU vehement verteidigt. Kanzleramtschef Helge Braun hatte mit seinem lauten Nachdenken darüber, ob man nach der Corona-Pandemie nicht besser einen jährlichen Abbaupfad der Staatsschulden ins Grundgesetz schreiben sollte, die bei den Christdemokraten zuvor beachtete Unberührbarkeit der Schuldenbremse verletzt.

Bevor das Thema Staatsschulden erwähnt wurde, ging es jedoch um den FDP-Vorstoß an sich. Wie FDP-Fraktionschef Stefan Birkner erläuterte, wolle seine Fraktion das Wachstum als Ziel festschreiben und sich damit gegen jene Theorien wenden, die mit der Abkehr von wirtschaftlicher Entfaltung oder der Aufopferung der freien Marktwirtschaft auf die Corona-Krise antworten wollten. Birkner erinnerte an Konrad Adenauer und Ludwig Erhard als Wegbereiter des Grundgesetzes – und daran, dass die soziale Marktwirtschaft auf Wachstum beruhe. Wenn man über Steuererhöhungen oder höhere Schulden die staatlichen Finanznöte nach der Corona-Krise bekämpfen wolle, sei das ein völlig anderer Weg als der über mehr Wirtschaftswachstum. Andrea Schröder-Ehlers (SPD) bezweifelte, ob Wirtschaftswachstum wirklich automatisch zu einer gerechten Wohlstandsmehrung führe – und ob damit immer automatisch auch dem Klimaschutz genüge getan werde. Der Klimaschutz aber bedrohe die künftigen Generationen und sei eindeutig wichtiger. Wie die SPD-Politikerin betonte auch Helge Limburg (Grüne), dass das Grundgesetz in Bezug auf die Wirtschaftsordnung bewusst neutral geblieben sei und eine solche Haltung gerade jetzt auch angebracht sei. Man dürfe neue Ansätze wie die Gemeinwohlökonomie „nicht abzuwürgen versuchen durch eine neue Verfassungsnorm“, wie die FDP es versuche. Gerade in Zeiten von Kurzarbeit, Existenzbedrohungen und Firmensterben sei der Ansatz der Freien Demokraten, eine Wirtschaftsordnung festschreiben zu wollen, völlig unangebracht. Ungebremstes Wirtschaftswachstum sei doch gerade eine Ursache der Klimakrise.

Widerspruch kam auch von Christian Calderone (CDU). Die FDP beginne „eine Scheindebatte, die an der Lebenswirklichkeit der Leute vorbei“ gehe. Wenn von „individueller und gesellschaftlicher Wohlstandsmehrung“ die Rede sei, so erinnere das an Formulierungen, wie sie „auch Sozialisten oder Kommunisten wählen würden“. Dann, so meint er, hätte man „auch Ziele wie gutes Leben, Lebensfreude und Glückseligkeit nehmen können“. Er wundere sich, warum die FDP nicht den Mut gefunden habe, Niedersachsen als „wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Staat“ zu beschreiben, denn solche Begriffe wären konkreter gewesen. Der frühere AfD-Abgeordnete Stefan Wirtz interpretierte die FDP-Initiative so, dass die FDP offenbar eine „Vorahnung“ habe – nämlich die Vermutung, die anderen Parteien würden nach der Corona-Krise „zu schnell Freundschaft schließen mit planwirtschaftlichen Lösungen“. Die jüngste Debatte um die Schuldenbremse weise darauf hin. Frauke Heiligenstadt (SPD) erklärte, Helge Braun habe mit seinen Aussagen zum Neuverschuldungsverbot „völlig Recht“, er liege damit auf der Linie, die auch Stephan Weil und Johanne Modder unlängst geäußert hätten. Die SPD klatschte dafür Beifall, in der CDU-Fraktion rührte sich keine Hand.