Die AfD und der angeblich tote Briefkasten der Landeswahlleiterin
Am Eingang der Clemensstraße 17 in Hannover, dem Dienstsitz der niedersächsischen Landeswahlleiterin, steht ein üppiger Briefkasten mit einem großen Einwurfschlitz. Dieser Gegenstand genießt am Dienstagvormittag bei einer Gruppe Besucher, die vor der Tür warten, eine hohe Aufmerksamkeit. Sie begutachten das Objekt von allen Seiten und stellen einvernehmlich fest: Der Kasten bietet genügend Platz, dass der AfD-Vorstandsvertreter Heiner Rehnen dort tatsächlich am 28. Februar die Landesliste zur Bundestagswahl nebst Anlagen (einen dicken Stapel Papier) eingeworfen haben könnte. Das behauptet Rehnen nämlich – und auch am Dienstag zeigt die AfD-Spitze um den Landesvorsitzenden Hampel keine Anzeichen, ihm nicht zu glauben. Was dann nach diesem 28. Februar geschah, ist ein Krimi, der immer noch ausgesprochen rätselhaft erscheint und nun die Justiz beschäftigt. Anfang März erhielt Rehnen, so sagt es Hampel, einen Brief der Landeswahlleiterin Ulrike Sachs, dass die Landesliste angekommen sei, zwei Wochen später einen weiteren Brief von Sachs, in dem die Unbedenklichkeit dieser Liste bescheinigt wird. Mittlerweile ist aber klar: Beide Briefe waren Fälschungen. War auch Rehnens Geschichte, die Liste in den Briefkasten gesteckt zu haben, eine erfundene Darstellung? Die Liste ist seither verschwunden. Konnte sie jemand aus dem Briefkasten fischen – oder hat Rehnen sie verschwinden lassen?
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Der ganze Vorgang ist mysteriös, und als sich Hampel, seine Stellvertreter Wilhelm von Gottberg und Jörn König, der Rechtsberater Daniel Biermann und Schatzmeisterin Evelyn Witerzens darüber austauschen, ist in diesem Kreis schnell klar: Die Aufklärung dieses Falles muss warten, denn die AfD Niedersachsen hat gerade ein größeres Problem: Wie kann jetzt sichergestellt werden, dass die damals vermeintlich eingereichte Landesliste nun noch rechtzeitig zur Prüfung bei der Landeswahlleiterin vorgelegt werden kann? Die AfD-Delegation übergibt dazu am Dienstag Unterlagen, ein einstündiges Gespräch mit Sachs und ihrer Stellvertreterin Antje Henning schließt sich an. Von allen 25 Kandidaten müssen Wählbarkeitsbescheinigungen ihrer Gemeinden und eidesstattliche Versicherungen vorgelegt werden. Auf die Schnelle hatte die AfD-Spitze dieses Material, das schon im Februar vorrätig war, noch einmal besorgt, aber in vier Fällen fehlt es offenbar noch. Nun tickt die Uhr: Die Landeswahlleiterin teilt mit, sie werde die Unterlagen prüfen. Falls die Einwände so gravierend sein sollten, dass die AfD zur neuen Landeslisten-Aufstellungsversammlung einladen muss, wird alles furchtbar eng – eine dreiwöchige Ladungsfrist gilt laut AfD-Satzung, aber bis 17. Juli muss die dann neu aufzustellende Liste bei Sachs spätestens eingereicht sein, und damals, im Februar, brauchte die Partei schon zwei Wochenenden, um die Kandidatenreihenfolge zu bestimmen. Strenge Geschäftsordnungsregeln sind bei solchen Versammlungen einzuhalten, außerdem erschwert der parteiinterne Zwist die Auslese.
Das heißt: Wenn die AfD vorsorglich zu einer neuen Aufstellungsversammlung einladen wollte, müsste sie es in den nächsten Tagen tun. Dabei kommt als Makel hinzu, dass morgen schon die Sommerferien beginnen – und viele AfD-Mitglieder könnten sich später beschweren, dass sie langfristig Urlaube gebucht hatten und deshalb nicht kommen konnten. Umgekehrt ist das Risiko des Abwartens groß: Bei gravierenden Mängeln kann es passieren, dass der Landeswahlausschuss Ende Juli die AfD nicht zulässt für die Bundestagswahl. Als Hampel und von Gottberg das Büro der Landeswahlleiterin verlassen haben, zeigen sie sich optimistisch, denn die Beschwerden von AfD-Mitgliedern gegen die Februar-Aufstellungsversammlung seien aus Sicht von Sachs „kein Problem“, sagt Hampel: „Der Streit über die um einen Tag verkürzte Ladungsfrist bedroht die Liste nicht.“ Über ein Postident-Verfahren habe man sichergestellt, dass auch jene schriftlich eine Einladung bekommen hatten, die keine Mailadresse besitzen. Es habe auch niemand abgestimmt, der keine Mitgliedsrechte hat – und wenn doch, dann sei das nicht relevant, weil es kaum knappe Entscheidungen im Februar gegeben habe. „Ich bin ganz sicher, dass die AfD zur Bundestagswahl antreten kann“, fügt Hampel hinzu.
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Aber ist das schon die ganze Wahrheit? Auch die AfD-Rebellen, die sich von Hampel ausgegrenzt fühlen, lassen nicht locker. Sie haben mehrere Einwände gegen die Februar-Versammlung zusammengetragen: So hätten Hampel und andere in der Versammlung für bestimmte Personen geworben – und gegen andere Einwände vorgetragen. Mehr als 150 der rund 2300 AfD-Mitglieder hätten damals die Einladung per Mail nicht erhalten, weil ihre Mailadresse nicht mehr stimmte – und weil nach dem Rücklauf der nicht zustellbaren Mail nicht nach einer neuen Anschrift geforscht worden sei. Mehr als 30 Mitglieder hätten gar kein Internet – und es sei nicht nachvollziehbar, wie die AfD ihnen eine schriftliche Tagesordnung zukommen lassen haben will. Auch die neu eingetretenen Mitglieder, die noch nicht in der Landesgeschäftsstelle erfasst worden waren, habe man nicht berücksichtigt. Dass einige AfD-Vorstandsvertreter von den Kandidaten in der Versammlung ein „polizeiliches Führungszeugnis“ verlangt hätten, obwohl das gar nicht vorgeschrieben ist, sei auch ein Anfechtungsgrund. Schließlich geht es um die Fortsetzung der Versammlung, die am 5. Februar unterbrochen wurde und dann spontan auf das folgende Wochenende vertagt wurde, ohne dass es eine formale Einladung an alle AfD-Mitglieder für den zweiten Termin gegeben hätte. Kurzum: Die Landesgeschäftsstelle sei mit der Organisation total überfordert gewesen und habe große Fehler begangen.
Ist also der Briefkasten in der Clemensstraße, der angeblich die Wahlunterlagen geschluckt und ins Jenseits befördert haben soll, nur ein Symbol für das Chaos in dieser Partei? Heiner Rehnen hat immerhin eine Konsequenz schon gezogen – er ist als „Vertrauensmann“ für diese Listenaufstellung zurückgetreten. (kw)