6. Juni 2024 · 
Soziales

Diakonie ist ernüchtert: Die ambulante Pflege ist heute kaum noch finanzierbar

Alle wissen es. Manche haben versucht, zaghaft den Kurs zu korrigieren. Aber niemand wagt sich daran, das Ruder herumzureißen. „Wir geraten sehenden Auges in eine Situation, in der pflegebedürftige Menschen unversorgt bleiben“, warnt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. Den „Tag der Pflege“ nahm der Wohlfahrtsverband zum Anlass, um auf die „herausfordernde“ Situation im Pflegesystem aufmerksam zu machen: Der demographische Wandel führt dazu, dass immer mehr Menschen Pflege benötigen, aber immer weniger Pflegekräfte zur Verfügung stehen. Dazu kommt ein Vergütungssystem, das die tatsächlichen Kosten für die ambulanten Dienste und stationären Einrichtungen schon jetzt nicht in Gänze abdeckt.

Hans-Joachim Lenke ist Vorstandssprecher beim Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen. | Foto: Diakonie

Die Diakonie rechnet das am Beispiel der ambulanten Pflege vor: Die „Große Pflege“, also die Unterstützung beim Waschen und Anziehen, wird unabhängig vom Zeitaufwand nach einem Punktesystem vergütet. 38 Euro werden dafür von der Pflegekasse erstattet. Die „Große Pflege“ dauert zwischen 30 und 45 Minuten. So genau lässt sich das nicht planen, denn jeder Mensch und jeder Haushalt sind anders. „Wenn die Patientin erstmal ein paar Minuten braucht, um die Tür zu öffnen, kommt diese Zeit noch obendrauf“, erklärt Anke Reichwald, die Geschäftsführerin der „Diakovere Pflegedienste gGmbH“. Für sie fallen pro Stunde knapp 63 Euro an Ausgaben an. „Man muss kein Rechengenie sein, um zu erkennen, dass diese Situation für viele ambulante Pflegedienste eine finanzielle Herausforderung ist“, kommentiert Lenke. Damit die „Große Pflege“ finanzierbar ist, muss es bei anderen Kunden schneller gehen. Für Menschen mit hohem Pflegeaufwand sind das keine guten Nachrichten. Sie müssen befürchten, dass sie als Kunden nicht mehr von Pflegediensten akzeptiert werden. Um finanziell nicht in Schieflage zu geraten, benötigen die Pflegedienste einen Mix aus unterschiedlichen Kunden und Leistungen.

„Ambulant vor stationär ist der Grundsatz der Politik – und es ist das, was sich die Menschen wünschen. Aber es muss auch möglich gemacht werden“, fordert Lenke. Er und sein Team haben zahlreiche Ideen, was sich in der Pflegeversicherung ändern müsste: „Statt Pauschalen für einzelne Leistungen müsste die Arbeitszeit nach fachlicher Qualifikation vergütet werden“, fordert Referent Sascha Mahler. „Es wird in der Zukunft einen möglichst optimalen Einsatz der Pflegekräfte brauchen. Dazu gehört sicher auch, über Möglichkeiten nachzudenken, wie Fahrtzeiten reduziert werden können, um die mögliche Zeit beim Patienten zu erhöhen“, erklärt Lenke.

Bereichsleiterin Andrea Hirsing wünscht sich, dass Pflegekräfte autonomer entscheiden dürfen. Bisher werden viele Maßnahmen nur vom Arzt verordnet. Dadurch entstehe ein enorm hoher bürokratischer Aufwand – und Frustration bei den hoch qualifizierten Pflegekräften. Diese könnten, durch entsprechende Weiterbildungen, beispielsweise notwendige Verordnungen eigenständig ausstellen. Diese Maßnahmen würden Druck aus dem System nehmen. Auch die Aufteilung der Versorgung in die unterschiedlichen Sozialgesetzbücher steht dem ganzheitlichen Versorgungsansatz der professionellen Pflegekräfte entgegen.

Andrea Hirsing leitet den Bereich "Pflege und Gesundheit" beim Diakonischen Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen. | Foto: Diakonie

Um zukunftsfähig zu sein, brauche die Pflegeversicherung eine grundlegende Reform, meint Lenke. Es sei nötig, sie aus Steuermitteln zu unterstützen, damit sich jeder eine Basis-Pflege leisten könne. Doch bisher seien alle Gesundheitsminister davor zurückgeschreckt. Auch in dieser Legislaturperiode rechnet Lenke nicht mehr mit dem großen Wurf auf Bundesebene. Umso nötiger sei es, dass das Land Niedersachsen einspringt und den Pflegeheim-Bewohnern bei den „Investitionskosten“ unter die Arme greift, also bei den Erhaltungskosten der Immobilie, die auf die Bewohner umgelegt werden.

Dieser Artikel erschien am 7.6.2024 in Ausgabe #104.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

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