12. Juni 2022 · Kultur

Der Tag der Niedersachsen schafft den Spagat zwischen Spaß und Anspruch

Beim 37. Tag der Niedersachsen treffen in Hannover Regionen und Kulturen aufeinander. | Foto: Link

„Bei uns gibt es nicht nur Fritten und Bier“, versprach der hannoversche Protokollchef Christian Held vor dem Tag der Niedersachsen. Nach dem Ende der dreitägigen Veranstaltung am Sonntag kann dieses Versprechen als erfüllt gelten. Das Landesfest, das nach 41 Jahren erstmals in Hannover stattfand, hat sich als eine Art Maschseefest mit kulturellem und sozialem Anspruch erwiesen. Dem Megaevent ist der Spagat gelungen, hunderttausende Besucher zu begeistern und dabei auch das selbst erklärte Ziel zu erfüllen, die kulturelle Vielfalt des Landes und regionalen Besonderheiten vorzustellen. Das gelang nicht nur auf den Bühnen, wo neben großen Publikumsmagneten wie Popstar Milow oder dem früheren ESC-Kandidat Max Mutzke viele Künstler aus Niedersachsen eine Bühne bekamen – vom hannoverschen Brass-Ensemble Brazzo Brazzone über das Landespolizeiorchester bis hin zur Volkstanzgruppe Wiesmoor aus Ostfriesland.

Der Tag der Niedersachsen ist weit gekommen. 1981 hob der niedersächsische Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Wilfried Hasselmann (CDU), die Veranstaltung erstmals aus der Taufe und ließ sie in seiner Heimatstadt Celle an den Start gehen. Damals erreichte das Landesfest noch 60.000 Gäste, inzwischen liegen die Besucherzahlen im mittleren sechsstelligen Bereich. Dass die Veranstaltung zur 37. Auflage nach Hannover kommt, war eigentlich nie vorgesehen, weil es genau darum geht, das zweitgrößte Bundesland abseits der Landeshauptstadt zu präsentieren. Anlässlich des 75. Landesgeburtstags entschied sich die Landesregierung aber zu einer Ausnahme, was rückblickend sowohl für Hannover wie auch das Event eine glückliche Entscheidung gewesen sein dürfte, denn nach der langen Corona-Pause kommt die Veranstaltungsszene bekanntermaßen nur schleppend in die Gänge, was am Wochenende bei bestem Wetter nun aber überhaupt nicht der Fall war. „Diese Veranstaltung kommt zur richtigen Zeit. Das Gesamtgefüge passt, es macht Spaß, die Stimmung ist toll“, bilanziert ein sehr begeisterter hannoverscher Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne).

Während die Landeshauptstadt beim Fest rund um ihren Verwaltungssitz sogar eine eigene Festmeile bespielen darf, haben es die Kommunen aus dem übrigen Niedersachsen nicht leicht, im Gedränge aufzufallen. Auf der Tourismusmeile vorm Neuen Rathaus überbieten sich die Marketingverbände gegenseitig: Uelzen hat seinen Stand wie den Hundertwasser-Bahnhof gestaltet, Hameln ist mit dem Rattenfänger vor Ort und Cuxhaven hat gar einen kleinen Leuchtturm herangekarrt. Die Seehafenstadt Emden trägt richtig dick auf. An einer Imbissbude, die dem Emder Rathaus nachempfunden ist, werden Rum mit Bunkje und Ostfriesische Bohntjesopp zum Freundschaftspreis verkauft.

Links daneben gibt es Sitzplätze, rechts davon steht das Stadtmarketing mit einem Infostand. Der Einsatz lohnt sich, schon am Samstagnachmittag wird das Infomaterial knapp. Die Fahrradkarten gehen zur Neige und von den ursprünglich 2500 Emden-Beuteln ist höchstens eine Handvoll übrig. „Wir haben noch ein paar Kugelschreiber, aber die halten wir für morgen zurück“, verrät Sandra Wrobel von der Wirtschaftsförderung. Ob die Werbung in Hannover für mehr Touristen – zum Beispiel beim demnächst anstehenden Delft- und Hafenfest (15. bis 17. Juli) – führen wird, wird sich kaum messen lassen. Doch Wrobel ist auf jeden Fall zufrieden: „Ich bin da ganz zuversichtlich. Wir liegen auch günstig und sind mit dem 9-Euro-Ticket gut zu erreichen.“

Kultusminister Grant Hendrik Tonne ist nicht zufällig auf der Info- und Erlebnismeile anzutreffen, die im Gegensatz zu den anderen acht Themenmeilen von den Veranstaltern eine eher diffuse Beschreibung erhalten hat. Doch die Angst, dass eine „Sozialmeile“ das Publikum kalt lässt, ist glücklicherweise unbegründet. Auch bei SoVD, Aidshilfe, Amnesty International oder „Niedersachsen packt an“ herrscht reger Publikumsbetrieb. „Die Aufstellung der Wohlfahrtsverbände ist wirklich beeindruckend“, sagt Tonne ohne Übertreibung, der genauso wie auch andere führende Landespolitiker so viele Stände wie möglich besucht. So ganz privat hat es dem passionierten Tischtennis- und Schachspieler vor allem auf der Sportmeile gefallen. Und ein ganz besonderes Highlight hat der Kultusminister auf der Meile der Kirchen und Religionsgemeinschaften entdeckt: Die Lebendige Jukebox des Blechbläserensembles Lappland. „Die machen Musik von Händel bis Biene Maja, von Bach bis Gummibärenbande“, staunt Tonne. Doch dazu später mehr.

Auf der Info- und Erlebnismeile wird eines deutlich: Die Festbesucher erwarten Infotainment von den Ausstellern. Eine kleine Vereinigung wie der Landesverband „Stottern & Selbsthilfe“ Nord hat es schwer, in diesem Überangebot an Unterhaltung überhaupt wahrgenommen zu werden – ohne Glücksrad, Kinderschminken und Mitmachaktionen. „Wir haben insgesamt nur 215 Mitglieder und keine Geschäftsstelle“, sagt der Vorsitzende Klaus Liebisch aus Hoya (Landkreis Nienburg/Weser) und erzählt: „Ich selbst bin seit dem fünften Lebensjahr betroffener Stotterer und habe durch die Schulzeit hindurch viel Leid erfahren.“ Auch im Job habe der gelernte Elektromeister wegen seiner Sprachstörung nur im Nachtschichtbetrieb einer Papierfabrik arbeiten dürfen. Seine letzte Sprachtherapie habe ihn aber so weit gebracht, dass er sogar öffentliche Reden halten kann, wenn er sich konzentriert. Den Tag der Niedersachsen lässt Liebisch nie aus, um für eine bessere Akzeptanz von Stotterern zu werben. „Ich würde mir wünschen, dass uns die Menschen ausreden lassen. Wir brauchen zwar etwas länger, aber wir wissen, was wir sagen wollen und brauchen niemanden, der uns die Worte in den Mund legt“, bringt Vorstandskollege Fiede Kruse das Kernanliegen der Stotterer auf den Punkt.

Einen anderen Ansatz, um mit seiner Behinderung umzugehen, wählt Tan Caglar. Der frühere Rollstuhlbasketballer aus Hildesheim tritt mittlerweile als deutsch-türkischer Comedian auf. Während er im Fernsehen zwar schon bei Markus Lanz, Dieter Nuhr oder Bülent Ceylan zu sehen war, ist er noch nicht über die Rolle des Gaststars hinausgekommen. Auf dem Landesfest am Sonnabend war sein Auftritt im Landeszelt mit der Landesbühne jedoch eines der Highlights. Warum er für den Tag der Niedersachsen gebucht wurde, leitete er mit seiner typisch ironischen Art aber nicht von seiner Popularität her. „Die Veranstalter haben sich gedacht: Wenn wir den Tan buchen, haben wir den Quotenbehinderten und den Quotenkanacken in einer Person abgedeckt“, scherzte der 40-Jährige und meinte: „Wenn ich jetzt noch schwul wäre, wäre meine Karriere gar nicht mehr zu stoppen.“ Auch nebenan auf der Sportmeile rückten mal die Sportler in die erste Reihe, die ansonsten eher im Schatten des Fußballs stehen. Dass sich so viele Niedersachsen von sogenannten Randsportarten wie Judo, Baseball, Segelfliegen oder Tanzsport faszinieren lassen, kommt auch nicht häufig vor. Der Tag der Niedersachsen er ist auch der Tag der Außenseiter, die hier endlich einmal ins Spotlight rücken dürfen.

Unterhaltung um der reinen Unterhaltung willen gibt es auf dem Landesfest natürlich auch. Doch viele Spaßangebote haben einen echten Tiefgang. Bestes Beispiel dafür ist die bereits erwähnte Lebendige Jukebox auf der Religionsmeile. „Man wirft einen Euro ein und dann kann man sich aus der Liederliste etwas aussuchen“, erklärt Ulf Pankoke das Prinzip, das nicht nur den Kultusminister begeistert hat. „Wir haben auch drinnen einen riesigen Spaß, deswegen haben wir heute auch 119 Stücke gespielt“, sagt der Chef des Blechbläserensembles „Lappland“. Das Repertoire reicht vom heiteren „Azzurro“ bis zum tieftraurigen „War Requiem“. Auf dem Tag der Niedersachsen wird die Gospel „Down by the Riverside“ besonders auffällig gewünscht. „Warum an welchen Orten welche Lieder gewünscht werden, wissen wir auch nicht“, sagt Pankoke und lacht.

Der frühere Landesposaunenwart der evangelisch-lutherischen Landeskirche leitet heute das Modellprojekt „Vision Kirchenmusik“, das genauso wie die Lebendige Jukebox das Interesse an der Kirchenmusik wecken soll. Auch im Schulunterricht verfolgt Pankoke dabei spielerische Ansätze mit Publikumsbeteiligung. „Da geht es dann darum, dass die Schüler selbst etwas zu einem großen Werk der Kirchenmusik machen und am Ende selbst Stücke komponieren, die zum Beispiel gegen den Krieg sind“, erzählt der Musikpädagoge. Außerhalb von „Vision Kirchenmusik“ verfolgen Pankoke & Co. nach der langen Corona-Pause aber noch ein Ziel: „Wir wollen erreichen, dass Gesang nicht mehr als gefährlich wahrgenommen wird, sondern dass er den Menschen wie früher guttut. Das muss jetzt erst mal wieder wachsen.“ Der Tag der Niedersachsen hat dazu einen großen Beitrag geleistet, von dem auch der Rest der Veranstaltungsszene zumindest noch bis zur nächsten Corona-Welle zehren kann.

Dieser Artikel erschien am 13.6.2022 in Ausgabe #109.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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