19. Jan. 2017 · 
P und P

„Der Obama aus Göttingen“

Sein Nachname ist unaussprechlich, der Vorname kommt den Leuten etwas leichter über die Lippen – deshalb nennen ihn alle im Ort auch so: „Chicgoua“. Seit wenigen Wochen sagen manche auch über den 48-Jährigen: „unser Bürgermeister“. Chicgoua Noubactep, gebürtiger Kameruner, ist seit vergangenen Herbst ehrenamtlicher Ortsbürgermeister im Ortsteil Rittmarshausen, das zur Gemeinde Gleichen im Kreis Göttingen gehört und 750 Einwohner hat. Die älteren kennen Gleichen vielleicht noch, weil das die Heimat der langjährigen, 2011 verstorbenen SPD-Politikers Klaus-Peter Bruns war. Seit ein paar Wochen nun macht ein anderer Name diese Gegend überregional bekannt – Noubactep. Seine Geschichte handelt von vielen Zufällen und Besonderheiten. Bis er 27 war, hatte Noubactep in Kamerun gelebt, dort auch eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten. Er wollte promovieren, im Ausland seine Kenntnisse vertiefen – und suchte nach einem Stipendium. Kanada, Lyon oder Deutschland? Die Zulassung für eine kanadische Uni war schon da, als 1994 der Anruf der deutschen Botschaft mit der Zusage für ein Stipendium kam. Und Noubactep folgte, ging erst nach Bremen, dann zur Uni Dresden, wo er zwei Jahre blieb. „Rückblickend muss ich sagen: In manchen Stadtteilen Dresdens wurde ich als Farbiger angefeindet, dort ging ich nicht mehr hin.“ Er wechselte zur Bergakademie Freiberg, hielt sich öfter in Leipzig auf, ging nach Jena und dann nach Göttingen. Rassismus, Ausgrenzung und Beleidigungen? „Meistens habe ich das nicht erlebt. Aber heute würde ich wohl nicht unbedingt nach Ostdeutschland wollen“, meint er. Der Mann aus Kamerun arbeitet hauptberuflich als Chemiker und Privatdozent mit dem Fachgebiet Trinkwasseraufbereitung am Geowissenschaftlichen Zentrum der Uni Göttingen. Er lebt mit seiner Frau, einer Krankenschwester, und drei Kindern in Rittmarshausen. Seine Kinder spielen Fußball und Judo, ein Sohn ist Mitglied bei der Feuerwehr – aber übermäßig stark engagiert hatte sich der Chemiker bisher ehrenamtlich nicht. Die Familie wohnt auch erst seit drei Jahren im dem Dorf. Aber dann geschah etwas, das das Dorf aufrüttelte – und worüber Noubactep gar nicht reden möchte. Direkt neben den Ort sollte ein neuer Windpark entstehen, und es regte sich Bürgerprotest. Sind die Planungsunterlagen korrekt gewesen, hat der Landkreis bei der Antragstellung wichtige Aspekte vergessen? Schnell kam vor der Kommunalwahl im Herbst auch der Ortsrat selbst unter Druck, denn einige Bürger warfen den Mandatsträgern vor, die Öffentlichkeit zu spät über die Pläne informiert zu haben. Unterschriften wurden gesammelt, ein Wort gab das andere – und die Ortsratsmitglieder traten geschlossen zurück. Es drohte die Einsetzung eines „Ortsvorstehers“ von der Gemeinde, und das wollten die Rittmarshausener nicht. Auf ein eigenes Gremium, das die Interessen des Dorfes vertritt, möchten sie keinesfalls verzichten. So begab sich der Versicherungskaufmann Jürgen Giebenrath auf die Suche nach Kandidaten für eine neugegründete Wählergemeinschaft. Das mussten alles neue, unerfahrene Leute sein, weil sich der bisherige Ortsrat komplett zurückgezogen hatte. Als Giebenrath fünf Bewerber zusammen hatte, wollte er noch eine Frau zur Kandidatur motivieren – doch das schlug fehl. Jemand riet ihm aber, mal bei Noubactep, der auf einer Anhöhe wohnt, zu fragen. Gesagt, getan. Der farbige Wissenschaftler sagte nach kurzer Bedenkzeit zu, es ging ja nur darum, die Liste voll zu kriegen. Dass mehr daraus würde, ahnte damals keiner. Am Wahlabend selbst war der Wissenschaftler nicht da, einen Tag später klingelte im Uni-Institut sein Telefon und Giebenrath teilte ihm mit, dass er mit Abstand die meisten Stimmen erhalten hatte – 350 von 1070. Sollte er jetzt nicht konsequenterweise auch Ortsbürgermeister werden? Giebenrath fragte Noubactep, der schlief eine Nacht darüber und antwortete am nächsten Morgen dann knapp: „Ich mache das.“ Giebenrath meint heute: „Diesen Satz werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“ Seither finden immer wieder Fernsehteams und Reporter ihren Weg nach Rittmarshausen. Der erste farbige Ortsbürgermeister Niedersachsens hat im Feuerwehrhaus ein kleines Büro eingerichtet, er trifft hier Ratsuchende, hilft bei den Abwasserbescheiden und bei der Hundesteuer, hört sich auch die Beschwerden über die Gemeindeverwaltung an. Die Straßenlaternen im Ort, soviel ist klar, müssen saniert werden. „Wir sind aber wohl erst 2019 an der Reihe“, sagt Noubactep. Eine Grundschule gibt es nicht mehr, die nächste liegt zwei Kilometer entfernt. Einen Kindergarten haben die Rittmarshausener schon, einen kleinen Supermarkt auch noch, eine Praxisgemeinschaft mit mehreren Ärzten und eine Apotheke. Die Poststelle hat – leider – kürzlich geschlossen. Er muss auch mit der Post reden. Ob Politik Spaß macht? „Auf jeden Fall“, meint Noubactep. Derzeit lerne er noch, gewinne an der Gemeindearbeit aber durchaus Gefallen. Vor 16 Jahren, da hatte er eigentlich zurückkehren wollen nach Kamerun. Ein Angebot aus Kanada kam zu der Zeit auch. Aber dann starb in Afrika seine Mutter, und die deutschen Behörden gaben ihm 2003 die Chance, Deutscher zu werden. „Ich habe mich dann irgendwann gefragt: Warum soll ich eigentlich zurück? Das ist jetzt meine Heimat hier.“ Und ob mehr daraus werden kann, vielleicht in fünf Jahren eine Kandidatur für den Gemeinderat, oder auch für den Kreistag? „Wenn die Menschen hier mehr wollen von mir, muss ich das mal überlegen.“ In den USA endet am heutigen Freitag die Amtszeit des ersten schwarzen Präsidenten. In Niedersachsen hat die politische Karriere des ersten schwarzen Bürgermeisters gerade erst begonnen. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #12.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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