Von Martin Brüning

Mehr als 20 Flugstunden liegt die chinesische Grenze von Braunschweig entfernt, aber die Entwicklung Chinas ist kein entferntes Thema für die Unternehmer in der Region, im Gegenteil. Rund 400 Gäste sind zu einer Veranstaltung des Arbeitgeberverbands Region Braunschweig (AGV) gekommen, um sich an diesem Abend mit dem Fernen Osten zu befassen. „China hat einen klaren Plan die strategisch führende Volkswirtschaft in der Welt zu werden. Die machen das einfach und gehen konsequent ihren Weg“, so läutet der stellvertretende AGV-Vorstandsvorsitzende Knud Maywald den Abend ein und gibt den Gästen mit auf den Weg: „Angst vor China muss nur derjenige haben, der sich damit nicht beschäftigt.“ In den vergangenen Wochen sei er aufgrund der Corona-Virus-Entwicklung etwas unsicher geworden, ob es möglicherweise Absagen geben könnte, berichtet der Versicherungsmanager. Aber das Thema China zieht. Das Westand, eine Veranstaltungshalle am Braunschweiger Westbahnhof, ist bis auf den letzten Platz gefüllt.


Lesen Sie auch:

Landesregierung: Keine Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen bei VW in China


Mit Frank Sieren hat sich der Arbeitgeberverband an diesem Abend einen langjährigen China-Insider eingeladen. Sieren lebt seit über 25 Jahren in Peking, arbeitete für den „Spiegel“, die „Zeit“ und seit 2010 für das „Handelsblatt“. Derzeit wohnt er Corona-Virus-bedingt mit seiner Familie auf einer Insel bei Hongkong, kann es aber kaum erwarten, nach Peking zurückzukehren. Wer dem Journalisten zuhört, fühlt dessen Begeisterung für ein Land, in dem er im vergangenen Vierteljahrhundert Veränderungen in einem Tempo erlebt hat, wie in keiner anderen Gesellschaft im selben Zeitraum. Dieses Tempo gab es noch vor gar nicht allzu langer Zeit in China noch nicht. Seit 40 Jahren gebe es die Politik der Öffnung, vorher habe das Land 150 Jahre lang Pleiten, Pech und Pannen hinter sich, erklärt der Journalist.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Jetzt sei das Land aber auf einem Weg in die Normalität und kehre wieder zum Status einer Weltmacht zurück. Die „weiße westliche Minderheit“ habe ungewöhnlich lange die Spielregeln der Welt diktiert, erklärt Sieren im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. „Das lässt sich mit dem Adel im 19. Jahrhundert vergleichen. Da hat auch eine Minderheit die Spielregeln der Mehrheit bestimmt, und irgendwann haben sich die Bürger dagegen gewehrt.“ In diese Phase gehe man mit China jetzt hinein. „Jetzt ist der Zeitpunkt herauszufinden, welche Ziele China hat, und wir müssen nicht glauben, dass China automatisch unsere Vorstellungen eins zu eins übernehmen wird.“

Mein Eindruck ist, dass wir noch gar nicht spüren, was da auf dem Spiel steht. Wir glauben immer noch, dass das alles immer so weiter geht.

Auf Deutschland und Europa blickt China dabei mit leichter Sorge. Er komme etwa einmal im Monat nach Deutschland, mit jedem Besuch wird seine Besorgnis ein Stück weit größer. „Mein Eindruck ist, dass wir noch gar nicht spüren, was da auf dem Spiel steht. Wir glauben immer noch, dass das alles immer so weiter geht.“ Sieren nimmt auch eine gewissen Arroganz in Europa wahr. Die Chinesen müssten erst einmal auf unser Niveau kommen und dann fange man an, sich mit ihnen zu beschäftigen, so der Eindruck.

Das hält der China-Experte für einen schweren Fehler: „China ist in einigen Bereichen schon viel weiter als wir.“  Der deutsche Mittelstand habe das bereits erkannt und gehe intuitiv mit dieser Situation um. Die Politik hinke aber noch hinterher. Sie sei zu stark im Lokalen, Hektischen und Lauten verhaftet und verliere dabei die großen Linien aus dem Blick. Schon jetzt habe sich ein wichtiges Prinzip verändert. „Früher hatten wir die Technologie und die Chinesen hatten den Markt. Jetzt haben die Chinesen die Technologie selbst, und die deutsche Wirtschaft muss sich viel genauer überlegen, was die Chinesen wann und wo brauchen.“

Das Land ist immer noch hungrig. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt jetzt auf dem Niveau Bulgariens, da ist noch Luft nach oben. Und eine Milliarde Chinesen sind noch nie geflogen.

Der China-Kenner ist überzeugt, dass der Aufschwung im Land über unsere Generation hinaus andauern wird, wenn die chinesische Politik keine größeren Fehler macht. „Das Land ist immer noch hungrig. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt jetzt auf dem Niveau Bulgariens, da ist noch Luft nach oben. Und eine Milliarde Chinesen sind noch nie geflogen“, erklärt Sieren. Das größte Problem sieht der Journalist auch gar nicht im Aufsteiger China, sondern in den Absteigern, und hier nennt er als Beispiel die USA. US-Präsident Donald Trump versuche immer wieder, China Paroli zu bieten.

So habe er in Bezug auf die 5-G-Technologie Australien Neuseeland und Japan davon überzeugt, auf die Technologie des chinesischen Anbieters Huawei zu verzichten. In den betroffenen Ländern werde das inzwischen teilweise bereut, in Europa habe sich nicht einmal Großbritannien von Trump überzeugen lassen. „Daran erkannt man, dass die globale Durchgriffskraft der USA schwächer wird. Allerdings wird das Spannungsfeld zwischen der Forderung, das alte Amerika wiederzubringen, und der Realität immer größer“, so Sieren. Seine Sorge sei, dass sich China und die USA ineinander verkeilten und man in eine Situation komme, in der die Lage aus dem Ruder gerate.

China hat in den letzten Jahren 75 Flughäfen gebaut, wir kriegen nicht mal einen zum Laufen.

Und Deutschland und Europa? Für Pessimismus ist es noch zu früh. Wir müssten erkennen, dass Wettbewerb auch Spaß machen könne. Wenn wir das erkennen und auf die Herausforderung reagieren, hält Sieren es angesichts der Ressourcen und der Innovationskraft für möglich, dass man gegen China nicht automatisch den Kürzeren ziehe. Er warnt aber auch: „Es liegt an uns. Wenn wir die Herausforderung verschlafen, dann ist Europa eben irgendwann ein Freizeitpark.“ Auch Unternehmer mahnen zum Tempo. „China hat in den letzten Jahren 75 Flughäfen gebaut, wir kriegen nicht mal einen zum Laufen“, stellt Bernd Kaufmann, Geschäftsführer der Braunschweiger Firma Simtec Systems, an diesem Abend in einem Filmbeitrag fest. Kaufmann sieht in Deutschland einen Sättigungseffekt, der zum Teil die Motivation schwer beeinträchtige. Von diesem Effekt ist China noch weit entfernt. Und während sich Deutschland sich gerne bei Neuerungen damit befasst, was alles nicht geht, entscheidet sich China generell für den anderen Weg. Dort wird erst einmal ausprobiert, ob es geht – Begrenzungen und Vorschriften kommen dann später.