
den sofortigen Ausbau erneuerbarer Energien. | Foto: Link
Die norddeutsche Chemiebranche und der Landesverband Erneuerbare Energien (LEE) haben eine unerwartete Allianz geschmiedet. Gemeinsam drängen sie auf einen Ausbau-Turbo bei Windkraft, Photovoltaik und Biogas in Niedersachsen. „Die hohen Energiekosten sind auch für unsere Branche eine wahnsinnige Herausforderung. Wir laufen in eine energiepolitische Katastrophe und brauchen ganz schnell ganz viel Strom im Markt“, sagt Jochen Wilkens, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Chemie-Nord. Jeder zweite Betrieb der Chemie- und Pharmabranche fürchte um seine Existenz. Einzelne Chemiewerke hätten die Produktion bereits gedrosselt oder sogar eingestellt. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Firma Kronos Titan in Blexen (Landkreis Wesermarsch), die 280 von 350 Mitarbeitern bis Jahresende in Kurzarbeit schickt. Die benachbarte Nordenhamer Zinkhütte will die Produktion ab November sogar für ein ganzes Jahr aussetzen. Alle 400 Beschäftigten müssen in Kurzarbeit.
„Wir sehen mit großer Sorge, dass energieintensive Unternehmen in ihrer Existenz gefährdet sind und über eine Betriebsstilllegung oder -verlegung nachdenken. Beide Optionen entsetzen uns“, kommentiert die LEE-Vorsitzende Bärbel Heidebroek die Lage und bietet Hilfe an: „Die niedersächsische Erneuerbaren-Branche ist finanzkräftig und in der Lage, kurzfristig ihre Leistung zu erhöhen.“ Voraussetzung dafür sei jedoch, dass Bund und Länder endlich die Genehmigungsprozesse verschlanken und den Ausbau mit aller Kraft vorantreiben. Ganz konkret stellen Chemie-Nord und LEE folgende Forderungen auf, um den Chemiestandort Niedersachsen zu stärken:
„Für das Gelingen der Transformation ist die Einführung schneller und verlässlicher Genehmigungsverfahren eine unverzichtbare Voraussetzung“, sagt Wilkens. Praktisch jedes Chemieunternehmen in seinem Verband habe Transformationspläne in der Schublade, die sich momentan aber nicht umsetzen lassen. „Wir müssen jetzt schnell das Signal setzen, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren schaffen“, sagt der Arbeitgebervertreter. Ansonsten drohe Niedersachsen bei den Unternehmensinvestitionen der kommenden Jahre außen vor gelassen zu werden. Von den Politikern in Hannover, Berlin und Brüssel fordert er deswegen, dass sie beim Bürokratieabbau nicht länger mit dem Finger auf die anderen zeigen, sondern sich zusammenraufen und die Prozesse radikal beschleunigen.
„Wir können es uns nicht leisten, in diesem Karussell der Verantwortungslosigkeit weiterzufahren“, sagt Wilkens. Er fordert eine „schnelle Eingreiftruppe“, die bürokratische Hindernisse identifiziert und Lösungen zur Abhilfe vorschlägt. Sein Anspruch: „Wir brauchen eine Geschwindigkeit von einem halben Jahr.“ Dass das grundsätzlich geht, beweise der Bau des LNG-Terminals in Wilhelmshaven. Auch Heidebroek kritisiert die aktuellen Verfahrensdauern als „unvorstellbar lang“. So habe das Raumordnungsverfahren für die Region Braunschweig zehn Jahre gedauert und werde immer noch beklagt, berichtet die Chefin der Landwind-Gruppe aus dem Landkreis Helmstedt, die über 120 Windenergieanlagen betreut. Sie fordert zudem die konsequente Umsetzung der elektronischen Bauakte in Niedersachsen: „Dass wir unzählige Pappkartons von Leitz-Ordnern in die Baubehörden tragen, ist einfach nicht mehr zeitgemäß.“
„Wir werden die Energiewende nur schaffen, wenn wir die Industrie auch da versorgen, wo sie ist. Die Politik hinkt da aber häufig hinterher und schafft nicht die Voraussetzungen, die Industrie und Erneuerbare benötigen“, sagt Heidebroek. Das im Wind-an-Land-Gesetz ausgegebene Flächenziel von 2 Prozent für Windkraft müsse deswegen so schnell wie möglich konkretisiert werden. „Die Länder müssen ihre Planungsziele jetzt regionalisieren. Es nützt nichts, sich hinter Zwischenzielen zu verstecken“, betont die LEE-Vorsitzende. Wilkens plädiert beim Ausbau der Erneuerbaren zudem für ein tagesaktuelles Monitoring. Man müsse den Fortschritt genauso nachverfolgen können wie derzeit das Auffüllen der deutschen Gasspeicher. Nur dadurch könne man beim Erreichen der Ausbauziele schnell nachsteuern und auf Kurs bleiben. „Wir brauchen Zahlen, Daten, Fakten“, sagt Wilkens. Heidebroek rechnet vor: Um die Windenergie an Land jährlich um 10 Gigawatt zu steigern, wie es das Wind-an-Land-Gesetz vorsieht, müssten jeden Tag etwa 6 Windenergieanlagen neu gebaut werden. „Das ist eine Menge und wir stehen ganz am Anfang“, sagt die LEE-Vorsitzende. Sie ist jedoch zuversichtlich: „Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, können wir den Ausbau schaffen.“
Gerade mal 5 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases stammt aus heimischer Produktion. Laut dem Branchenverband LEE könnte man den Eigenanteil im Gasnetz aber auch ohne zusätzliche Bohrungen oder Fracking steigern. „Biogasanlagen können direkt ans Gasnetz angeschlossen werden und Gas liefern“, sagt Heidebroek. Bisher wird diese Möglichkeit allerdings kaum ausgeschöpft. Von den rund 9600 Biogasanlagen in Deutschland speisen nur rund 200 Anlagen ihr Biomethan ins Gasnetz ein. Auf den deutschen Jahresverbrauch umgerechnet liegt der Biogas-Anteil derzeit bei einem Prozent, beziehungsweise bei 10 von 1000 Terawattstunden pro Jahr.
„Wir dürfen uns nicht von gefühlten Gefährdungspotenzialen leiten lassen“, sagt Heidebroek. Sie fordert eine stärkere Orientierung an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Praxiserfahrern. „Es müssen die Arten geschützt werden, bei denen Populationen durch die Erneuerbaren tatsächlich gefährdet werden“, sagt sie. Bei vielen mutmaßlich gefährdeten Arten habe es nach dem Bau der Windräder sogar einen Anstieg der Population gegeben. Gerade der Ersatzneubau von bereits genehmigten Windrädern, das sogenannte Repowering, stelle hier sogar oft eine Verbesserung dar. Weil moderne Windkraftwerke höher sind, würden diese die vor allem in Bodennähe jagenden Greifvögel noch weniger gefährden, erläutert Heidebroek. Zudem betont die Verbandschefin, dass die Erleichterung des Repowerings eine der ersten Maßnahmen der neuen Landesregierung sein sollte. Heidebroek: „Das ist der Schritt, wo wir beim Ausbau der Erneuerbaren am schnellsten vorankommen.“