Aus einem Provisorium wird eine Dauereinrichtung: Das „Kompetenzzentrum Großschadenslagen“ (KomZ) stellt sich darauf ein, seine Stabsarbeit auch nach der Corona-Pandemie weiterhin in Celle zu erledigen. Angesichts der wachsenden Aufgaben beim Katastrophenschutz geht KomZ-Leiter Mirco Temmler davon aus, dass seine beim Innenministerium angesiedelte Organisations- und Steuerungszentrale zur Bewältigung von Katastrophen und Krisenlagen auch weiterhin mehr Platz benötigt, als in der Landeshauptstadt zur Verfügung stünde. „Als Behördenleiter kann ich sagen: Wir haben genug Aufgaben“, sagte Temmler dem Politikjournal Rundblick am Rande eines Besuchs von Ministerpräsident Stephan Weil und Innenminister Boris Pistorius.

Im April 2020 hatte Pistorius die niedersächsischen Katastrophenmanager in die Landesfeuerwehrschule in Celle umziehen lassen, weil der Personalbedarf drastisch angestiegen war. Um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen, füllten zu Spitzenzeiten mehr als 230 Mitarbeiter knapp 80 Stabsfunktionen im Schichtbetrieb aus. Aktuell werden nur noch 30 Stabsfunktionen benötigt. „Viele Menschen arbeiten im Hintergrund Tag für Tag und schieben viele Überstunden vor sich her. Das Lagezentrum ist für uns in vielerlei Hinsicht völlig unverzichtbar – bei der Erstellung von Lageberichten, beim Betrieb und dem Rückbau von Impfzentren oder bei der Ausstattung mit den notwendigen Testmaterialien im Land“, sagte Weil und dankte den Mitarbeitern für ihre bereits 18 Monate andauernde Arbeit im Krisenmodus.
„Niemand hätte vor anderthalb Jahren geglaubt, dass wir heute immer noch in dieser Struktur des Krisenmanagements stecken“, sagte Pistorius und bescheinigte den KomZ-Mitarbeitern eine „herausragende“ Koordinationsarbeit. Die niedersächsische Krisenbehörde, die nach dem Elbehochwasser 2002 vom damaligen Innenminister Heiner Bartling (SPD) angeordnet wurde, habe inzwischen sogar bundesweit Vorbildcharakter. „Wir sehen gerade jetzt in den letzten Wochen mit einer Doppellage – Pandemie einerseits und Unterstützungslage in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen anderseits – wie leistungsfähig diese Struktur ist“, sagte Pistorius. Es sei wichtig gewesen, die Strukturen außerhalb von Krisen aufzubauen und zu erproben. „Das führt dazu, dass es jetzt ziemlich reibungslos läuft, aber auch eine hohe Belastung darstellt für die Kolleginnen und Kollegen der Kernmannschaft und derjenigen, die dazukommen aus den anderen Häusern.“
Aus Erfahrungen lernen: „Katastrophenschutz wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine wesentlich höhere Bedeutung haben, als wir das in der Vergangenheit kannten“, sagte Ministerpräsident Weil. Vor allem die bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gemachten Erfahrungen sollen helfen, die Krisenreaktionsfähigkeit hierzulande weiter zu verbessern. „Aus Niedersachsen heraus konnte aufgrund unserer Organisation sehr schnell eine praktische Hilfe geleistet werden“, sagte Weil. Fünf Tage nach der Flutkatastrophe am 14. Juli waren bereits rund 1700 niedersächsische Hilfskräfte von Feuerwehren, Hilfsorganisationen, Polizei und DLRG im Einsatz. „Erste Hilfsangebote hat es vom Ministerpräsidenten und mir persönlich per SMS gegeben. Und das Kompetenzzentrum Großschadenslage hat dann innerhalb weniger Stunden die ersten Feuerwehrbereitschaften und THW-Ortsgruppen und andere zusammengerufen, um sich auf den Weg zu machen“, berichtete Pistorius und stellte fest: „Das funktionierte sehr, sehr gut. Problematisch kann es immer dann werden, wenn mehre Lagen auf einmal Platz greifen. Das hatten wir bisher noch nie, außer jetzt in der Doppelung mit Pandemie und Hochwasserlage.“
Für KomZ-Leiter Temmler sind gerade diese praktischen Erfahrungen aus dem doppelten Katastrophenfall unverzichtbar. „Ich konnte mir auch selbst vor Ort einen Eindruck verschaffen, welche Fragestellungen nach so einem Ereignis kommen – gerade bei so grundlegenden Dingen wie Wasser-, Strom- und Gasversorgung oder Ernährung.“ Denn Temmlers erstes Fazit zum niedersächsischen Hochwasser-Einsatz in Südwestdeutschland lautet: „Die Kooperation mit den Einheiten vor Ort, mit den Führungskräften hat gut funktioniert. Wir haben unsere Hilfe zielgerichtet platzieren können, die sehr gut aufgenommen wurde. Aber wir lernen auch für uns daraus: Wie könnte das in Niedersachsen laufen, wenn eine solche Katastrophe ein Kreisgebiet trifft? Was muss getan werden. wenn so viele Mitarbeiter einer Gemeinde- und Kreisverwaltung betroffen sind, das Kreishaus nicht mehr nutzbar ist, weil es von den Fluten zerstört wurde?“ Welche Schlüsse daraus konkret gezogen werden, wertet derzeit eine Arbeitsgruppe aus, deren Ergebnissen weder Temmler noch Weil vorgreifen wollten.

Sirenen weiter im Fokus: „Die Arbeitsgruppe in den Schlussberatungen“, sagte auch Pistorius. Eine Baustelle beim Katastrophenschutz nannte der Innenminister aber doch: „Die Frage der Sirenen, der Warnstrukturen wird in den nächsten Jahren eine hohe Priorität haben. Das ist auch kostenintensiv und technisch aufwändig, es ist aber nach meiner Auffassung völlig alternativlos.“ Das bestätigt auch der Ministerpräsident. „Wir hatten im letzten Jahr eine große Übung, die hat ein klares Ergebnis gebracht: Wir haben Handlungsbedarf“, sagte Weil. Im ländlichen Raum und in kleineren Städten hätten die Sirenen zwar weitgehend funktioniert. „Aber gleichzeitig herrschte in den großen Städten in Niedersachsen – wenn ich das so sagen darf – himmlische Ruhe. Und das war kein gutes Zeichen. Deswegen müssen wir unbedingt an den Sirenalarm heran. Wir können uns nicht nur auf SMS, Messenger-Dienste oder was auch immer verlassen.“
"Die Finanzierung von Warnstrukturen ist Aufgabe des Bundes. Die Mittel, die er dafür zur Verfügung stellt, sind aber völlig unzureichend.“
Stephan Weil, Ministerpräsident
Katastrophenschutz ist eine Geldfrage: Die Finanzierung von dringend benötigten Warnstrukturen, die beim Ahr-Hochwasser total versagt hatten, dürfe aber nicht allein am Land hängen bleiben. „Das ist eine Aufgabe des Bundes. Die Mittel, die er dafür zur Verfügung stellt, sind aber völlig unzureichend“, kritisierte Weil und kündigte an: „Wir werden sehr eindringlich darauf einwirken, dass der Katastrophenschutz auch im Bund den Stellenwert bekommt, den wir in der nächsten Zeit dringend brauchen werden.“
Im bundesweiten Vergleich stehe Niedersachsen beim Katastrophenschutz zwar gut da. „Es gibt Länder, die in Struktur und Finanzierung etwas weiter vorne stehen wie etwa Hessen und Bayern“, sagte Temmler. Aus seiner Sicht liegt das aber nicht daran, dass dort der Katastrophenschutz ernster genommen wird, sondern einfach an der höheren Wirtschaftskraft der beiden Geberländer. „Wir haben in Niedersachsen in den letzten fünf Jahren ziemlich gut aufgeholt. Vor allem die Ausbildung für den Katastrophenschutz haben wir massiv vorangetrieben.“
Bei der Ausstattung mit Material und Personal sieht Temmler seine Behörde derzeit gut aufgestellt. „Die Resonanz auf Stellenausschreibungen ist noch gut, aber wir sind bei der Personalgewinnung auf einem engen Markt unterwegs“, mahnte der KomZ-Leiter. Um die Infrastruktur der Niedersächsischen Akademie für Brand- und Katastrophenschutz (NABK) zu verbessern, hat das Land bereits 2016 den Geldhahn aufgedreht. Bis 2025 sollen die NABK-Standorte Celle und Loy (Landkreis Ammerland) für rund 80 Millionen Euro erweitert werden. Während die Landesfeuerwehrschule in Celle-Klein Hehlen nur im Bestand erhalten wird, wird der Standort Celle-Scheuen mit rund 38 Millionen Euro ausgebaut.

„In Zukunft wird wahrscheinlich auch der Stab seinen Platz in Scheuen haben“, sagte Temmler. Weitere Wünsche an die Landesregierung hat der KomZ-Leiter derzeit nicht. „Man kann immer besser werden. Es wäre vermessen zu sagen, dass man alles hat, alles kann. Man muss vielleicht auch nicht immer alles haben, alles können. Man muss darauf vorbereitet sein, bestimmte Grundfähigkeiten abzubilden. Da sind wir in den letzten Jahren einen guten Weg gegangen“, sagte Temmler und fügte hinzu: „Wir haben die Katastrophenschutzstrukturen in Niedersachsen neu aufgestellt. Wir haben viel Ausstattung jetzt in der Beschaffung – gerade auch wenn es darum geht Grundversorgung in der kritischen Infrastruktur mit abzubilden. Da müssen wir weiter ansetzen, das müssen wir jetzt alle miteinander in Niedersachsen voranbringen.“