Wird die Qualität der politischen Entscheidungen besser, wenn weniger die Parteien den Ton angeben und mehr direkt vom Volk festgelegt wird – etwa über Plebiszite? Skeptisch in diesem Punkt sind Bundestagsabgeordnete und -kandidaten von CDU, Grünen, SPD und FDP in der Stadt Göttingen. So haben sich Fritz Güntzler (CDU), Jürgen Trittin (Grüne), Andreas Philippi (SPD) und Konstantin Kuhle (FDP) jetzt in einer Diskussionsveranstaltung des Vereins „Mehr Demokratie“ zu den Erfahrungen mit sogenannten „Bürgerräten“ geäußert. „Bürgerräte“ sind Gremien aus ausgelosten Bürgern, die sich für eine bestimmte Zeit – die mehrere Jahre dauern kann – in Gruppen zusammensetzen und mit wissenschaftlicher Begleitung über aktuelle politische Fragen diskutieren. Am Ende einer längeren Prüfung und Abwägung stehen dann Empfehlungen, die von den Bürgerräten an die politischen Entscheidungsträger übermittelt werden. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hatte Bürgerräte berufen, die jeweils Bürgergutachten entwickelt hatten – beispielsweise zum Klimaschutz oder zu „Deutschlands Rolle in der Welt“.
„Das Letztentscheidungsrecht muss bei den Parlamenten liegen.“
Der Verein „Mehr Demokratie“, der seit langem für Volksentscheide wirbt, konfrontierte die vier Abgeordneten in einer Podiumsdiskussion auch mit dem „irischen Modell“. In Irland können die Ergebnisse der Arbeit von Bürgerräten den Wählern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden – und damit über diesen Weg direkt Gesetzeskraft erhalten. Das Parlament würde in diesen Fällen nicht mehr benötigt. Wäre das auch ein Weg für Deutschland? Hier zeigten sich Güntzler, Trittin, Philippi und Kuhle einig: „Das lehne ich ab, weil es eine Schwächung des repräsentativen Systems bedeuten würde“, betonte Trittin und fügte hinzu, dass Robert Habeck und er diejenigen Grünen-Politiker gewesen seien, die erfolgreich gegen das Bekenntnis für Volksentscheide im Grundsatzprogramm der Grünen angegangen seien. „Das Letztentscheidungsrecht muss bei den Parlamenten liegen“, betont Trittin. Güntzler ergänzte, er wolle sich „nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn wir 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle ein Plebiszit zur Migration gehabt hätten“. Kuhle meinte, er sei kritisch gegenüber einer Ausweitung von Volksentscheiden, da man zunehmend komplizierte Fragen auf einfache Ja-oder-Nein-Entscheidungen herunterbrechen müsse – und das sei oft nicht möglich.
Aufgeschlossen zeigten sich alle Politiker grundsätzlich gegenüber der Idee von Bürgerräten als einer reinen Ergänzung. Güntzler meinte, das nachlassende Engagement von Menschen in den Parteien und die wachsenden Schwierigkeiten, Akzeptanz für politische Entscheidungen zu finden, seien Tatsachen. Darauf müsse man Antworten finden, die Bürgerräte könnten diese bieten. Philippi forderte, die Politiker sollten „den Menschen auf den Mund schauen und ihre Sprache sprechen“, die Bürgerräte als Ratgeber könnten dabei behilflich sein. Sie könnten ein Gegengewicht darstellen gegenüber den sozialen Medien mit ihrem Trend zur Vereinfachung, Vergröberung und Aggressivität. Trittin spricht sich dafür aus, die Bürgerräte sogar „gesetzlich zu institutionalisieren“, ihnen also im Bundesrecht und im Recht der Länder einen festen Platz einzuräumen. Kuhle warnt jedoch davor, diese Gremien zu überschätzen, denn sie könnten nicht immer wertvolle Ratschläge liefern. So habe der Bürgerrat zu „Deutschlands Rolle in der Welt“ lediglich für ein besseres Verhältnis zu Russland geworben, aber die transatlantischen Beziehungen, Israel und Frankreich gar nicht erwähnt, er sei Antworten auf Nordstream II, Freihandelsabkommen und die Afghanistan-Politik schuldig geblieben.

Einig ist die Runde aber, dass Bürgerräte immer dann sinnvoll sind, wenn es um die Abwägung von Interessen bei der konkreten Umsetzung von Programmen geht – etwa im Klimaschutz bei der Frage, ab wann Verbote von Verbrennungsmotoren greifen sollen und welche Gruppe wie stark zu Abgaben herangezogen werden soll. Philippi regte Bürgerrat-Empfehlungen zum Thema „Migration“ an, Güntzler fügte hinzu, man könne auch über die Rentenpolitik beraten lassen – „also über Themen, die von den Politikern gern vertagt werden, weil schnelle einvernehmliche Lösungen oft nicht erreichbar scheinen und viele Beteiligte sich wegducken“. Kuhle empfahl, dass Vereine und Verbände verstärkt das Modell erproben, sich von zufällig ausgelosten Bürgerräten beraten zu lassen – und dass diese Gremien der Verbände dann direkt mit den Politikern in Kontakt treten können.