Womöglich liegt in der Tiefe noch eine alte Siedlung – wenn das so ist, wäre Hannover 1000 Jahre älter als bisher vermutet.
In Niedersachsen sind solche Zeugnisse bislang rar. Es gibt das Harzhorn in Bad Gandersheim; die Funde auf dem alten Schlachtfeld zeigen, dass die Römer sich noch im dritten Jahrhundert Kriege mit den Germanen lieferten. Es gibt das Römerlager Hedemünden bei Hann. Münden, eine alte Befestigungsanlage. Es gibt einen Fundplatz in Bentumersiel (Kreis Leer) und natürlich gibt es Kalkriese bei Osnabrück, den Ort, an dem die Varusschlacht stattgefunden haben soll. Mehrfach wird in der Landtagsanhörung die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung Wilkenburg im Vergleich zu diesen anderen Stätten zukommt. Während sich die Landesregierung mit einer Bewertung schwer tut, präsentieren die Petenten einige Experten, die keine Zweifel plagen. Der Archäologe Prof. Michael Erdrich meint, hier hätten in den Jahren 1 bis 7 nach Christi Geburt mehr als 20.000 römische Soldaten aufgehalten, also etwa ein Drittel der gesamten Armee. Die Vielzahl der bisherigen Funde, mit Metallsonden geortet, deute auf ein größeres und bedeutendes Lager hin. Das sei schon eine Besonderheit, weil man bisher nicht annahm, dass sich die Römer hier so dauerhaft aufhielten. Der hannoversche Chemie-Professor Franz Renz, der sich mit den neuesten Methoden der Bodenforschung auskennt und schon für Mond- und Mars-Missionen gearbeitet hat, vermutet sogar: „Womöglich liegt in der Tiefe noch eine alte Siedlung – wenn das so ist, wäre Hannover 1000 Jahre älter als bisher vermutet.“ Es wäre ein riesiges Versäumnis, meint Renz, wenn die Landeshauptstadt diesen Umstand nicht in ihre Bewerbung um den Titel einer Kulturhauptstadt Europas einbeziehen würde.
Eine vernünftige historische Arbeit lässt sich nicht husch-husch erledigen, die braucht Jahrzehnte.
Renz erklärt sich bereit, die auch auf fernen Planeten eingesetzten technischen Möglichkeiten zur Erforschung des Wilkenburger Lagers zu verwenden. Dann könne man ohne Ausgrabungen in die Tiefe schauen und Details erkennen – denn klar sei auch: „Jede Ausgrabung ist ein Teil der Zerstörung des Bodendenkmals“, wie Erdrich sagt. Einen Hafen an der hier entlangfließenden Leine soll es auch gegeben haben, aber dessen Überreste seien schon vernichtet. Das drohe nun auch bei einem Kiesabbau. Aus mehreren Nachfragen von Editha Westmann (CDU), Volker Senftleben (SPD), Dragos Pancescu (Grüne) und Hillgriet Eilers (FDP) wird klar, dass man für eine weitere Erforschung mehrere Zuschusstöpfe anzapfen könnte – beispielsweise solche der EU, denn in der Tat könnte unter dem Acker in Wilkenburg etwas verborgen sein, das europaweite kulturhistorische Bedeutung hat. Nur dauert die Aufarbeitung, wie Erdrich hervorhebt: „Eine vernünftige historische Arbeit lässt sich nicht husch-husch erledigen, die braucht Jahrzehnte.“
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Die vornehmlich älteren Zuhörer der Ausschuss-Anhörung, von denen viele die Petition unterschrieben hatten, finden sich wohl gut wieder in den Worten, die Werner Dicke zu Beginn an die Landtagsabgeordneten richtet - und die eine Mahnung sind. Als instinktarme Wesen würden die Menschen sich eine zweite kulturelle Welt schaffen, eine zweite Natur. Dafür sei die Kenntnis der Vergangenheit absolut wichtig, denn ohne diese würde man „blind in die Zukunft taumeln“. Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und dem überstürzten Wiederaufbau der Städte dürfe man nicht ein drittes Mal eine „soziale Amnesie riskieren“ – und müsse investieren in die Bindekräfte des Gemeinwesens, das sei Daseinsvorsorge. Ohne hinreichendes Wissen über die römische Zivilisation in dieser Gegend könne man keine niedersächsische, deutsche oder auch europäische Identität bilden. Denn Rom, so zitiert Dicke den Kulturhistoriker Jakob Burckhard, sei „Voraussetzung unseres Anschauens und Denkens“, die Römer hätten Recht, Verwaltung, Sprache und Kultur früh geprägt. „Wir wollen mehr darüber wissen“, betont er. (kw)