21. Mai 2019 · 
Bildung

Bürger richten eindringlichen Appell an den Landtag: Erhaltet das Römerlager Wilkenburg!

Eine leichte Anspannung liegt in der Luft, bei den Landtagsabgeordneten ebenso wie bei etwa hundert Bürgern, die in den kleinen, bis 2017 vom Landtag genutzten Plenarsaal gekommen waren. Die niedersächsische Volksvertretung erlebte gestern nämlich eine Premiere: Das erste Mal überhaupt hat der Petitionsausschuss, der über Eingaben aus der Bevölkerung berät, öffentlich getagt. Erstmals auch sind dazu etwa 100 Zuhörer gekommen – denn die Petition, um die es geht, trägt knapp 6000 Unterschriften, die meisten davon kommen aus Niedersachsen. Dies ist das Resultat der ersten Online-Eingabe, die es in Niedersachsen seit der Gesetzesänderung vor wenigen Jahren gibt. Das Anliegen ist knapp auf einen Punkt zu bringen: Das sich über 40 Hektar in Hemmingen-Wilkenburg (Region Hannover) erstreckende frühere römische Marschlager, über dem sich bisher eine Ackerfläche ausbreitet, soll nicht dem Kiesabbau durch die Zementfirma Holcim geopfert werden. Vielmehr soll es weiter für die archäologische Forschung reserviert werden, und zwar mindestens einige Jahrzehnte lang. „Das sind wir den nächsten Generationen schuldig“, sagt die frühere Lehrerin Kristina Osmers aus Hildesheim, die gemeinsam mit ihrem Mann Werner Dicke die Petition gestartet hatte. https://twitter.com/GrueneLtNds/status/1130818315734134784 Zunächst die Fakten: Im Raumordnungsprogramm von 2012 ist der Kiesabbau in der Gegend vorgesehen. Einen Antrag von Holcim gibt es bereits, die Region Hannover aber hat darüber in den vergangenen vier Jahren nicht entschieden – vor allem wegen des Denkmalschutzes. Denn erst seit 2015 verfestigen sich die Hinweise, dass hier ein besonderer archäologischer Fund vermutet wird. Die Landesregierung könnte wohl mit einem Beschluss den Kiesabbau dort mit Verweis auf diese späteren Erkenntnisse versagen, nach Ansicht des Grünen-Abgeordneten Christian Meyer sogar ohne das Risiko von Entschädigungszahlungen. Aber Wissenschaftsminister Björn Thümler, so erklärt gestern Kulturgut-Referatsleiterin Dagmar von Reitzenstein, mische sich in die Entscheidung der unteren Denkmalbehörde, also der Region Hannover, nicht ein. Erst müsse die untere Behörde sich festlegen, danach könne dann die höhere dazu etwas beitragen. Es sei denn, der Petitionsausschuss des Landtags stimmt für „Berücksichtigung“ und setzt Fakten. Für Anfang Juni sei ein Votum angepeilt, sagt der Ausschussvorsitzende Axel Brammer (SPD). Dabei dürfte eine entscheidende Frage sein, welcher historische Wert dem Römerlager zukommt. Mehrfach wird von Reitzenstein in der gestrigen Sitzung danach gefragt, doch ihre Antworten klingen nicht sehr klar.

Womöglich liegt in der Tiefe noch eine alte Siedlung – wenn das so ist, wäre Hannover 1000 Jahre älter als bisher vermutet.


In Niedersachsen sind solche Zeugnisse bislang rar. Es gibt das Harzhorn in Bad Gandersheim; die Funde auf dem alten Schlachtfeld zeigen, dass die Römer sich noch im dritten Jahrhundert Kriege mit den Germanen lieferten. Es gibt das Römerlager Hedemünden bei Hann. Münden, eine alte Befestigungsanlage. Es gibt einen Fundplatz in Bentumersiel (Kreis Leer) und natürlich gibt es Kalkriese bei Osnabrück, den Ort, an dem die Varusschlacht stattgefunden haben soll. Mehrfach wird in der Landtagsanhörung die Frage aufgeworfen, welche Bedeutung Wilkenburg im Vergleich zu diesen anderen Stätten zukommt. Während sich die Landesregierung mit einer Bewertung schwer tut, präsentieren die Petenten einige Experten, die keine Zweifel plagen. Der Archäologe Prof. Michael Erdrich meint, hier hätten in den Jahren 1 bis 7 nach Christi Geburt mehr als 20.000 römische Soldaten aufgehalten, also etwa ein Drittel der gesamten Armee. Die Vielzahl der bisherigen Funde, mit Metallsonden geortet, deute auf ein größeres und bedeutendes Lager hin. Das sei schon eine Besonderheit, weil man bisher nicht annahm, dass sich die Römer hier so dauerhaft aufhielten. Der hannoversche Chemie-Professor Franz Renz, der sich mit den neuesten Methoden der Bodenforschung auskennt und schon für Mond- und Mars-Missionen gearbeitet hat, vermutet sogar: „Womöglich liegt in der Tiefe noch eine alte Siedlung – wenn das so ist, wäre Hannover 1000 Jahre älter als bisher vermutet.“ Es wäre ein riesiges Versäumnis, meint Renz, wenn die Landeshauptstadt diesen Umstand nicht in ihre Bewerbung um den Titel einer Kulturhauptstadt Europas einbeziehen würde.

Eine vernünftige historische Arbeit lässt sich nicht husch-husch erledigen, die braucht Jahrzehnte.


  Renz erklärt sich bereit, die auch auf fernen Planeten eingesetzten technischen Möglichkeiten zur Erforschung des Wilkenburger Lagers zu verwenden. Dann könne man ohne Ausgrabungen in die Tiefe schauen und Details erkennen – denn klar sei auch: „Jede Ausgrabung ist ein Teil der Zerstörung des Bodendenkmals“, wie Erdrich sagt. Einen Hafen an der hier entlangfließenden Leine soll es auch gegeben haben, aber dessen Überreste seien schon vernichtet. Das drohe nun auch bei einem Kiesabbau. Aus mehreren Nachfragen von Editha Westmann (CDU), Volker Senftleben (SPD), Dragos Pancescu (Grüne) und Hillgriet Eilers (FDP) wird klar, dass man für eine weitere Erforschung mehrere Zuschusstöpfe anzapfen könnte – beispielsweise solche der EU, denn in der Tat könnte unter dem Acker in Wilkenburg etwas verborgen sein, das europaweite kulturhistorische Bedeutung hat. Nur dauert die Aufarbeitung, wie Erdrich hervorhebt: „Eine vernünftige historische Arbeit lässt sich nicht husch-husch erledigen, die braucht Jahrzehnte.“
Lesen Sie auch: „Kultur statt Kies“: Petition kämpft für das bedrohte Römerlager bei Hannover
Die vornehmlich älteren Zuhörer der Ausschuss-Anhörung, von denen viele die Petition unterschrieben hatten, finden sich wohl gut wieder in den Worten, die Werner Dicke zu Beginn an die Landtagsabgeordneten richtet - und die eine Mahnung sind. Als instinktarme Wesen würden die Menschen sich eine zweite kulturelle Welt schaffen, eine zweite Natur. Dafür sei die Kenntnis der Vergangenheit absolut wichtig, denn ohne diese würde man „blind in die Zukunft taumeln“. Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs und dem überstürzten Wiederaufbau der Städte dürfe man nicht ein drittes Mal eine „soziale Amnesie riskieren“ – und müsse investieren in die Bindekräfte des Gemeinwesens, das sei Daseinsvorsorge. Ohne hinreichendes Wissen über die römische Zivilisation in dieser Gegend könne man keine niedersächsische, deutsche oder auch europäische Identität bilden. Denn Rom, so zitiert Dicke den Kulturhistoriker Jakob Burckhard, sei „Voraussetzung unseres Anschauens und Denkens“, die Römer hätten Recht, Verwaltung, Sprache und Kultur früh geprägt. „Wir wollen mehr darüber wissen“, betont er. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #095.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail