Brauchen wir eine Revolution in den Schulen, damit der Unterricht künftig noch gelingen kann?
Die Digitalisierung macht es möglich: Lernen kann immer individueller werden, der zu vermittelnde Stoff kann auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten jedes Schülers speziell zugeschnitten werden. Muss sich deshalb auch die Welt in der Schule verändern? Ist es noch sinnvoll, wenn ein Lehrer vor 25 Schülern steht und seinen Stoff vorträgt – oder brauchen wir völlig neue Formen? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.
PRO: Von zahlreichen Idealen ist nicht nur Niedersachsen nach wie vor weit entfernt. Das macht sie aber nicht zu bildungspolitischen Wolkenkuckucksheimen. Im Gegenteil: Man sollte alles daransetzen, den Idealen so nahe wie möglich zu kommen, meint Martin Brüning.
Es sind die sechziger Jahre in Deutschland. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei, die Schulgebäude in keinem besonders guten Zustand und in den Klassenzimmern sitzen die Schüler jahrgangsübergreifend. Aber auch in dieser Zeit gibt es Ideale. Von „freischaffendem Lernen in offener Behaustheit“ schreibt Walter Kempowski in seinem Roman „Heile Welt“, in dessen Mittelpunkt ein junger Lehrer steht, der in den 60ern an eine Dorfschule in der Lüneburger Heide kommt. Man solle „in die Kinder hineinvertrauen“, hat ihm sein Seminarleiter mit auf den Weg gegeben. Wie in der Realität ist auch in Kempowskis Buch das Erreichen der Ideale schwierig. Ein halbes Jahrhundert später gibt es neue, vermutlich sogar viel mehr Ideale.
Gerade weil die Unterschiede größer werden, muss es noch mehr Anstrengungen dafür geben, Schüler individuell zu unterstützen.
Individuelle Förderung: Der Weg der Differenzierung ist mühsam, das weiß jede Lehrkraft, die mit genau dieser Zielsetzung Unterrichtsstunden plant. Im Alltag ist es schwierig, auf jeden Schüler flexibel einzugehen, zumal die Heterogenität in den Klassen in den vergangenen Jahren größer geworden ist. „Die Unterschiede in den Grundschulen reichen inzwischen von ‚Kann den Stift nicht halten‘ bis ‚Hat schon grundlegende Kenntnisse in Chinesisch‘“, sagte der Bildungsforscher Hans Anand Pant im vergangenen Jahr bei einer Veranstaltung in Holzminden. Gerade aber weil die Unterschiede größer werden, muss es noch mehr Anstrengungen dafür geben, Schüler individuell zu unterstützen. Bildungsetappen müssen noch flexibler und individueller werden. Das ein wenig zu häufig bemühte Politik-Zitat „Kein Kind darf verloren gehen“ bleibt am Ende gesellschaftlich vollkommen richtig. Eine Gesellschaft, die zu viele auf dem Bildungsweg zu viele verloren gibt, bekommt die Quittung dafür in den darauffolgenden Jahrzehnten.
Lehrkraft der Zukunft: Sie hat immenses Fachwissen, Einfühlungsvermögen, kann überzeugend argumentieren und ist natürlich absolut stressresistent. Am wichtigsten dürfte aber sein: Sie ist nicht mehr allein. Multiprofessionelle Teams sind eine wichtige Voraussetzung für individualisierten Unterricht und dem Ziel, jedem Kind im Klassenzimmer gerecht zu werden. Die Änderung, Schulbegleiter zu „poolen“ anstatt sie nur einem einzelnen Kind zuzuordnen, ist ein weiterer zaghafter Schritt auf diesem Weg. Wer meint, die individuelle Förderung nur in Erlasse und Gesetze schreiben zu müssen, die dann eine einzige Lehrkraft von 20 bis 30 Schülern in der Klasse umsetzen soll, wird scheitern. Die Lehrer der Zukunft müssen Teamplayer sein.
Multiprofessionelle Teams sind eine wichtige Voraussetzung für individualisierten Unterricht und dem Ziel, jedem Kind im Klassenzimmer gerecht zu werden.
Schulgebäude mit Ambiente: Kann man noch Vier-Ecken-Rechnen spielen, wenn es Räume ohne vier Ecken in einer Schule gibt? An dieser Stelle dürften der Kreativität keine Grenzen gesetzt sein. Das Umfeld unserer Tätigkeit nimmt Einfluss auf unsere Arbeit. Das gilt im Berufs- ebenso wie im Schulleben. Wer Kindern Freude am Lernen vermitteln möchte, kann sie nicht in zugige Kästen setzen, die älter sind als die Dorfschule, in der Kempowskis Protagonist seine Arbeit aufnimmt. Und viele Richtlinien für Schultoiletten führen offensichtlich nicht dazu, dass diese automatisch in einem akzeptablen Zustand sind.
„Ideale sind wie Sterne. Man kann sie nicht erreichen, aber man kann sich an ihnen orientieren“, hat der US-Politiker Carl Schulz gesagt. Von zahlreichen Idealen ist nicht nur Niedersachsen nach wie vor weit entfernt. Zu viele Lehrer stehen alleine vor zu großen Klassen, die Inklusion verläuft teilweise holprig, die Gebäude sind mancherorts in einem so erbärmlichen Zustand, dass sogar moderne Schulcontainer, in denen es warm, hell und trocken ist, der reine Luxus für die Schüler sind. Nur weil die Ideale weit entfernt sind, macht es sie noch nicht zu bildungspolitischen Wolkenkuckucksheimen. Im Gegenteil: Man sollte alles daran setzen, den Idealen so nahe wie möglich zu kommen. Gefährlich ist allerdings, die Ideale in Erlasse zu schreiben und dies finanziell und personell nicht zu unterlegen. Wenn Erlasse und Realität zu weit auseinanderdriften, wird das immer mehr zu einem großen Problem für die Schulen.
„Ich hasse es, Fragmente zu hinterlassen. Das ist das Vollendungsstreben“, sagte Walter Kempowski kurz vor seinem Tod im Jahr 2007. Er habe seine „Lebensarbeit unter Dach und Fach.“ Das Bildungssystem ist niemals unter Dach und Fach, es gibt immer Verbesserungsmöglichkeiten. Man muss aber auch politisch den Mut und die Kraft haben, Ideale in der Realität zu verwirklichen.
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CONTRA: Es ist wie immer: Wir machen uns viel zu viel Gedanken über die Formen des Unterrichts und der Gestaltung des Schullebens – und kümmern uns zu wenig um die Kernfrage: Welches Wissen wollen wir an unsere Kinder weitergeben? Deshalb ist eine Rückbesinnung auf die Qualitätsfrage notwendig, meint Klaus Wallbaum.
Natürlich wird die Digitalisierung ganz zwangsläufig den Schulalltag erfassen. Überspitzt gesagt: Wenn dann ein Computer erkennt, wo die individuellen Lerndefizite des Schülers liegen und mit welchen Mitteln und Wegen diese behoben werden können, dann ist das in erster Linie eine wunderbare Errungenschaft des technischen Fortschritts. Die Lehrer werden dann irgendwann motiviert (oder auch: genötigt) sein, die neuen Verfahren im Unterricht anzuwenden. Das kann dazu führen, dass Schritt für Schritt die Maschine mehr bestimmt, was genau ein Schüler wie lernen soll – und nicht mehr der Lehrer mit seinem pädagogischen Auftrag. Wir sollten diese Entwicklung als realistische Möglichkeit begreifen und uns darauf einstellen. Aber wir sollten sie weder verdammen und vehement ablehnen – noch ihre beschleunigte Einführung fordern und von der Notwendigkeit einer „Revolution im Schulalltag“ reden. All das nämlich ist überspitzter Eifer und verstellt nur den Blick auf das Wesentliche.
Es deutet sich an, dass mit der Digitalisierung die Beziehung zwischen der Maschine und ihren Algorithmen auf der einen Seite, dem Individuum auf der anderen Seite intensiver wird.
Was aber ist das Wesentliche? Das ist die Erziehung zu sozial handelnden, verantwortungsbereiten, die Werte der Toleranz und Menschlichkeit achtenden und für das Gemeinwohl engagierten jungen Persönlichkeiten. Es deutet sich an, dass mit der Digitalisierung die Beziehung zwischen der Maschine und ihren Algorithmen auf der einen Seite, dem Individuum auf der anderen Seite intensiver wird. Das darf aber nicht zu dem Verlust von Gemeinschaft und Solidarität führen. Je bedeutender die Chancen von individueller Bildung werden, desto notwendiger wird eine Verstärkung dessen, was dabei zu kurz kommt – die Beziehung von Mensch zu Mensch, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung.
Nun wäre es engstirnig, unbedingt an dem seit Jahrhunderten bewährten Modell festhalten zu wollen: Ein Lehrer steht in der Klasse vorn an der Tafel und vermittelt seinen Unterrichtsstoff, die Schüler nehmen das auf – in Leistungstests wird abgefragt, wie gut die Botschaft verstanden wurde, die Tests werden benotet. Gott sei Dank haben wir heute Lehrer, die auf individuelle Fähigkeiten der Schüler eingehen und geneigt sind, Schwache eher mitzunehmen – also „niemanden hängen zu lassen“. Das geht aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Die Benotung der Leistungen kann nicht abgekoppelt werden von der Persönlichkeit der Benoteten – es muss auch um Motivation und Anerkennung gehen. Trotzdem wird jede Benotung am Ende irgendwann ungerecht, weil jeder Schüler unterschiedliche Stärken und Schwächen hat, weil die Neigungen unterschiedlich verteilt sind und im Unterricht oft nur bestimmte Fähigkeiten in den Zeugnissen Anerkennung finden, andere hingegen nicht. Es gehört dann zu den Lernleistungen für Kinder, solche Ungerechtigkeiten zu ertragen und mit Enttäuschungen leben zu lernen. Es ist gut, wenn Lehrer ihren Unterricht nicht nach Schema F abhandeln und die Enttäuschungen minimieren. Sie werden es vermutlich aber nie ganz schaffen, diese abzustellen. Deshalb kommt es verstärkt darauf an, das soziale Miteinander zu vermitteln und die Botschaft, dass eine schlechter bewertete Leistung nur einen Ausschnitt der abgefragten Fähigkeiten beschreibt, nie aber die Eignung eines Menschen an sich. Die Schule muss vermitteln, dass niemand ein Versager ist, nur weil er bestimmte Kompetenzen nicht hat.
Es geht viel um Kulturtechniken und um die Pflege von Werten, um Menschenkenntnis, psychologische Kenntnisse und auch darum, wie man Vertrauen entwickeln kann.
Gut möglich, dass die Digitalisierung die Lerninhalte auf den Kopf stellen wird. So genau weiß das derzeit wohl noch niemand, auch die Bildungsforscher nicht. Aber ziemlich sicher ist, dass andere Fragen wichtiger werden als sie es heute sind: Wie kann ich aus einer Masse an Informationen diejenigen herausfinden, die für mich wichtig sind? Wie kann ich erkennen, dass mir niemand mit einer Information einen Bären aufbinden will? Wie kann ich im Team die Informationen so nutzen, dass ich meinen Teil zur Weiterentwicklung möglichst gut leisten kann? Und: Wie kann ich vermeiden, dass Menschen aus dem Team ausbrechen und die Gemeinschaftsarbeit eher als Konkurrenz denn als Chance auffassen? Es geht also viel um Kulturtechniken und um die Pflege von Werten, um Menschenkenntnis, psychologische Kenntnisse und auch darum, wie man Vertrauen entwickeln kann.
All das wird heute schon in den Schulen zum Thema – und es sollte noch wichtiger werden. Die Digitalisierung wird uns früher oder später sowieso einholen. Ob wir sie beherrschen können oder nicht? Wer weiß das schon? Wir können uns auf jeden Fall auf das besinnen, was uns als Menschen ausmacht – auf unsere Rolle als soziale Wesen. Das sollte in der Schule, gepaart mit Wissensvermittlung und Geistestraining, im Vordergrund stehen.