
Der Fachkräftemangel in den technischen und naturwissenschaftlichen Berufen ist zurück auf Vor-Corona-Niveau und er verschärft sich weiter. Nach dem pandemiebedingten Rückgang gibt es in den sogenannten Mint-Berufen wieder eine riesige Arbeitskräftelücke: Rund 325.000 offene Stellen können in Deutschland auch nach Abzug aller arbeitslos gemeldeten Fachkräfte nicht besetzt werden, meldet das IW Köln in seinem aktuellen Mint-Report. Für die Metall- und Elektroindustrie in Niedersachsen ist dieser Negativtrend besonders bedrohlich: Zwei von drei sozialversicherungspflichtigen Jobs (64,1 Prozent) werden hier nämlich von Mint-Beschäftigten geleistet, in den sonstigen Branchen liegt der Anteil gerade mal bei 15 Prozent. In den Personalabteilungen der großen niedersächsischen Metall- und Elektro-Konzerne schrillen bereits die Alarmglocken.
„Wir haben nicht nur einen Fachkräftemangel, wir haben auch eine Arbeiterlosigkeit“, sagte Continental-Vorständin Ariane Reinhart beim Tag der niedersächsischen Wirtschaft in Hannover. Die Personal- und Nachhaltigkeitschefin des DAX-Konzerns rät den Unternehmen, ihre Ansprüche herunterzuschrauben und sich auch für ältere Beschäftigte, Flüchtlinge, Langzeitarbeitslose oder Menschen ohne Berufsausbildung zu öffnen. „Fast 20 Prozent unserer Belegschaft bei Continental sind An- und Ungelernte. Wir können es uns nicht leisten, dass diese Menschen durchs Raster fallen. Wir müssen alle Leute mitnehmen“, betonte Reinhart und verriet: „Wir stellen vermehrt auch Hauptschüler ein. Die bleiben Ihnen auch länger erhalten als die Abiturienten.“

Dekarbonisierung sind zwei
entscheidende Herausforderungen
unserer Zeit“, sagt Continental-Personalvorständin Ariane Reinhart. | Foto: Marcus Prell/UVN
Immer mehr Jugendliche zieht es ins Studium statt in die Lehre. Laut der Bundesagentur für Arbeit interessierten sich im Berichtsjahr 2021/2022 nur noch 422.000 Jugendliche für eine Berufsausbildung, während die Zahl der Studienanfänger im gleichen Zeitraum bei 472.000 lag. Vor 30 Jahren starteten noch doppelt so viele Jugendliche eine Berufsausbildung wie ein Hochschulstudium. Reinhart sieht diesen Trend mit Besorgnis und appellierte an ihre Kollegen aus der Wirtschaft: „Ihr alle, die Personalverantwortung habt: Ihr braucht nicht für jeden Job einen Hochschulabsolventen.“
Die Conti-Managerin sieht die Unternehmen auch in der Pflicht, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass die Karrierechancen der betrieblichen Ausbildung denen eines Studiums entsprechen. Von der Politik wiederum erwartet sie eine Entbürokratisierung der beruflichen Weiterbildung, für die der hannoversche Reifen- und Technologiekonzern im Jahr 2019 extra das „Continental Institute of Technology and Transformation (CITT)“ gegründet hat. „Da sind wir wahnsinnig stolz drauf“, sagte Reinhart. Mit dem unternehmenseigenen Weiterbildungszentrum glaubt der Konzern nämlich die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, wie man die Beschäftigten beim Wandel der Branche mitnehmen kann. Insgesamt 8500 Teilnehmer sollen sich bis Ende des Jahres dort weiterqualifiziert haben. „Das sind oft Menschen, die viele, viele Jahre nicht mehr die Schulbank gedrückt haben. Unser ältester Auszubildender im CITT ist 60“, berichtete Reinhart und fügte hinzu: „Alter spielt für mich genauso wie das Geschlecht oder die sexuelle Orientierung keine Rolle. Ich brauche die richtigen Leute am richtigen Ort.“
Mit seiner Qualifizierungsoffensive will Continental auch seinen Beitrag dazu leisten, dass die Fachkräftelücke nicht noch weiter aufklafft. „Wir brauchen jede Frau und jeden Mann“, sagte Reinhart. Die Antwort auf den Arbeitskräftemangel besteht aus ihrer Sicht in einem Potpourri an Maßnahmen. So müsste etwa der Stundenanteil von Frauen erhöht und die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland besser gesteuert werden. Und allein dadurch, dass die Baby-Boomer länger im Job gehalten werden, könnten laut Reinhart bis zu 600.000 Arbeitskräfte gesichert werden.
In der niedersächsischen Metall- und Elektroindustrie sind die „Boomer“ besonders stark vertreten. Zwischen Harz und Küste liegt der Anteil an Beschäftigten ab 55 Jahren bei 22,5 Prozent und damit über dem Bundesdurchschnitt. Überdurchschnittlich alt sind die Mint-Beschäftigten laut IW-Studie in den Landkreisen Salzgitter, Peine und Wolfsburg. Im Osten des Landes sind die Metall- und Elektro-Beschäftigten dagegen tendenziell jünger, insbesondere in den Kreisen Emsland, Vechta, Aurich und der Stadt Oldenburg.

Klimaneutralität und kann nur mit
Erneuerbaren beschritten werden.
Dazu werden Fachkräfte benötigt“,
sagt EWE-Personalvorständin Marion Rövekamp.
Einen Jugendwahn gibt es beim Oldenburger Energieunternehmen EWE trotzdem nicht – im Gegenteil. „Wir geben keine Altersteilzeitverträge raus“, stellte Marion Rövekamp klar, EWE-Vorständin für Personal und Recht. Das führe bei einigen Beschäftigten zwar für Unmut. Doch Rövekamp sagte ganz deutlich: „Wir können ehrlich gesagt auf niemanden verzichten.“ Bei EWE sei Abbau von Beschäftigung überhaupt kein Thema. „Wir machen nur Umbau.“ Diese Strategie wird von einer weiteren IW-Studie bestätigt, die die Fachkräftesituation in der Wind- und Solarenergiebranche untersucht hat. Demnach fehlen allein in der Bauelektrik fast 17.000 Fachkräfte. Im Bereich Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik liegt die Lücke bei 14.000 Arbeitskräften, bei den Informatik-Experten nur knapp darunter.
Über einen Mangel an Auszubildenden kann sich EWE als einer der größten Energieversorger bundesweit zwar nicht beklagen. „Wir haben für 150 Ausbildungsplätze über 2000 Bewerbungen erhalten“, berichtete Rövekamp. Trotzdem sieht auch sie es kritisch, dass immer mehr Jugendliche eher zum Studium tendieren. Der Handwerks-Meister müsse aus Sicht der EWE-Konzernvorständin deswegen auch denselben Stellenwert bekommen wie ein Bachelor-Abschluss. Zudem forderte auch sie mehr Zuwanderung sowie eine frühere Berufsorientierung und mehr Digitalisierung bei den Behörden. Mit der Ausbildung von Hauptschülern hat Rövekamp anders als Reinhart dagegen nicht nur gute Erfahrungen gemacht. Auch EWE habe ein Kontingent an Ausbildungsplätzen extra für Hauptschüler reserviert. „Es ist aber nicht so einfach, wie ich dachte. Wir brauchen da viel mehr Begleitung und Betreuung“, berichtete die Arbeitsdirektorin.
Zum Thema Homeoffice haben die beiden Personalchefinnen ein gespanntes Verhältnis. „Die Arbeitswelt hat sich verändert. Präsenz hat einen Wert, aber mobiles Arbeiten ist heute ein Attraktivitätsmerkmal“, sagte Rövekamp. Weil gerade Spezialisten gerne zur Konkurrenz in größere Metropolen abwandern, zeigt sich die EWE-Personalvorständin pragmatisch. „Es ist bei uns nicht dringend erforderlich, in Oldenburg zu wohnen – auch wenn ich das jedem empfehlen würde“, sagte die gebürtige Berlinerin. Vom Gesetzgeber wünscht sich die Volljuristin aber klarere Vorgaben zur mobilen Arbeit, die in Deutschland bisher kaum gesetzlich geregelt ist.
Conti-COO Reinhart sieht im Homeoffice eine Gefahr für den innerbetrieblichen Frieden. „Das ist ein Privileg der White-Collars, der Schlipsträger. Wir müssen darauf achten, dass wir die Kollegen in der Produktion nicht abhängen und eine Zweiklassengesellschaft schaffen“, warnte die promovierte Juristin. Die Fabrikarbeiter dürften nicht dafür benachteiligt werden, dass sie den Betrieb auch in Krisenzeiten am Laufen halten. „Am Ende geht es darum: Jeder Mensch möchte maximal selbstbestimmt agieren“, sagte Reinhart und sprach sich für flexible Arbeitsmodelle aus, die allen Beschäftigten zugutekommen.

in schweren Zeiten“ (von links): EWE-Vorständin Marion Rövekamp, UVN-Hauptgeschäftsführer
Volker Müller, Continental-Vorständin Ariane Reinhart und Wirtschaftsminister Olaf Lies. | Foto: Marcus Prell/UVN