Bildungscloud: Staat benachteiligt private IT-Unternehmen
Man stelle sich vor, der Staat würde Ihnen ein Auto zur Verfügung stellen – kostenlos. Das Auto hätte er selbst mit Steuergeldern entwickelt und könnte es nun unter die Leute bringen. Das Modell hätte zwar durchaus Nachteile, enthielte zum Beispiel weniger Ausstattung, nicht alles würde reibungslos funktionieren und das Fahrverhalten wäre eher hölzern, aber es wäre eben auch: kostenlos. Was in diesem Fall nach einem fatalen Eingriff in den Markt und einem massiven Problem für alle Autobauer klingt, die Geld für ihre Fahrzeuge verlangen müssen, ist bei der Digitalisierung der Schulen gerade Realität.
Landauf, landab redet die niedersächsische Politik, angeführt vom Kultusministerium, gerade von der Bildungscloud. Sie basiert auf Technik, die vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam seit 2017 erarbeitet wurde, gefördert mit Steuergeld-Millionen. Gerade kamen vom Bundesforschungsministerium noch einmal 15 Millionen Euro für die Weiterentwicklung. Und die Werbung aus dem Ministerium gibt es zum Gratis-Produkt noch gratis dazu. In den vergangenen Wochen sei die Cloud um weitere Lernsoftware ergänzt worden, hinzu kämen noch mehr Lernbeispiele für Lehrkräfte, lobte Kultusminister Grant Hendrik Tonne vor wenigen Tagen die Software-Lösung.
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Eine ungewöhnliche Parteinahme der Politik, erst recht in Niedersachsen, wo doch eine der bekanntesten Schulsoftware-Lösungen nicht nur entwickelt wurde, sondern bis heute ihren Sitz hat. Vor ziemlich genau zwanzig Jahren fing es in der Computer AG am Hoffmann-von-Fallersleben-Gymnasium in Braunschweig an, dort entwickelte eine Gruppe um Jörg Ludwig ein Schulnetzwerk, mit dem er mit seinem Mitstreiter 2001 im „Jugend forscht“-Wettbewerb den dritten Platz erreichte. Es war die Geburtsstunde von iServ, das heute nach Angaben der Firma in 80 bis 90 Prozent der niedersächsischen Schulen genutzt wird und auch in anderen Bundesländern immer mehr Verbreitung findet, vor allem in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen nutzen viele Schulen das System, auch in Hessen und Baden-Württemberg werden es immer mehr.
Einen weiteren kräftigen Schub gab es noch einmal in der Corona-Krise. 4150 Schulen arbeiteten inzwischen mit iServ, berichtet Ludwig im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Über den iServ-Server in der Schule läuft dabei nicht nur die schriftliche Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern, integriert ist zum Beispiel auch ein Videokonferenzsystem und ein Online-Kalender, zum Beispiel für Klausurtermine. Auch auf Online-Medien und gemeinsame Texte können die Nutzer zugreifen. Vor allem aber ist iServ in den Schulen die Basis für das gesamte Netzwerk, an das ziemlich einfach jeder Rechner, den es in der Schule gibt, angeschlossen werden kann.
Warum wird an der Stelle das Geld verschenkt, obwohl es bereits Angebote gibt, die seit Jahren verfügbar und perfekt auf Schule zugeschnitten sind?
Das Braunschweiger Unternehmen mit aktuell rund 75 Mitarbeitern ist ein Erfolgsmodell und derzeit auf einem enormen Wachstumskurs. Man werde über kurz oder lang wohl weitere 50 Mitarbeiter einstellen, sagt Jörg Ludwig. Auf dem Schulsoftware-Markt tummeln sich einige Anbieter, der stärkste Konkurrent kommt aus den USA, von Microsoft. Experten halten die US-Variante auch für ein gutes System, machen sich aber Gedanken um den Datenschutz bei dem Anbieter. Viele Schulsoftware-Unternehmen spezialisieren sich auch nur auf einzelne Komponenten, bieten zum Beispiele attraktiv gestaltete Chat-Systeme an oder ermöglichen Videokonferenzen. Und dann gibt es eben noch die Bildungscloud, die eben nicht wie iServ zwischen und vier und sechs Euro pro Schüler pro Jahr kostet.
Trotz der aus den Kultusministerien, Niedersachsen ist dabei kein Einzelfall, verbreiteten Kostenlos-Kultur macht sich Jörg Ludwig keine allzu großen Sorgen – noch. Bisher bleibe die Bildungscloud bei den Funktionen weit hinter der Bandbreite andere Angebote zurück, das sei den Schulen häufig nicht korrekt kommuniziert worden. Aber wer weiß heute schon, ob mittelfristig nicht doch ein Konkurrent erwächst, mit dessen aus Steuermitteln erfolgter Finanzierung kaum ein Unternehmen, außer Microsoft, mithalten kann? „Als mittelständische Firma ist das jenseits aller Budgets, die bei uns möglich sind. Warum wird an der Stelle das Geld verschenkt, obwohl es bereits Angebote gibt, die seit Jahren verfügbar und perfekt auf Schule zugeschnitten sind?“, fragt Ludwig.
Generell ist der staatliche Markteingriff durch die Entwicklung einer eigenen Schulcloud unnötig und kontraproduktiv.
Im April wandten sich mehrere deutsche IT-Anbieter, darunter auch iServ, in einem offenen Brief an Bundesbildungsministerin Anja Karliczek. „Generell ist der staatliche Markteingriff durch die Entwicklung einer eigenen Schulcloud unnötig und kontraproduktiv“, hieß es darin, es fehle nicht an guten Lösungen. Nicht nur der Bund, auch die Länder machen in Sachen Bildungscloud ein fragwürdige, marktfeindliche Figur. Nordrhein-Westfalen pumpte Millionen in das System „Logineo“ und kämpft seit Jahren mit Problemen, Baden-Württemberg handelte sich für die digitale Bildungsplattform „ella“ sogar eine Rüge des Rechnungshofs ein. Fast neun Millionen Euro versenkte die Landesregierung in Stuttgart in die Bildungsplattform, nach etwas mehr als zwei Jahren wurde das Projekt gestoppt. Die IT-Behörde des Landes sei zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, den beauftragten Dienstleiter zu steuern und zu kontrollieren, stellte der Rechnungshof in einem 85 Seiten langen Gutachten fest.
Die Bildungscloud kann eine sinnvolle Lösung sein und den Wettbewerb zwischen den Softwareanbietern sogar erst richtig ermöglichen. Es darf aber keine Verdrängung im Markt geben.
Und in Niedersachsen? CDU-Fraktionsvize Mareike Wulf meint, es wäre Zeit für einen Runden Tisch. Der Kultusminister müsse kommerzielle Schulsoftwarenunternehmen, Schulbuchanbieter und die Vertreter der Bildungscloud an einen Tisch holen. „Die Bildungscloud kann eine sinnvolle Lösung sein und den Wettbewerb zwischen den Softwareanbietern sogar erst richtig ermöglichen. Es darf aber keine Verdrängung im Markt geben“, sagt Wulf. Vom Runden Tisch scheint man allerdings noch weit entfernt. Mitte März hat Ludwig nach eigenen Angaben eine lange Mail an Kultusminister Grant Hendrik Tonne geschrieben. Eine Antwort habe er fast ein halbes Jahr danach immer noch nicht erhalten.
Von Martin Brüning