20. Juli 2020 · Soziales

Bereitschaftsarzt sieht gravierende Probleme bei Notfall-Nummer 116-117

Seit einem halben ist das System des ärztlichen Bereitschaftsdienstes geändert. Wer Beschwerden hat, ruft nicht mehr den Bereitschaftsdienst vor Ort an, sondern wählt die bundesweit gültige Nummer 116-117. Wer dabei aus dem Gebiet der Kassenärztlichen Vereinigung in Niedersachsen (KVN) anruft, landet dann bei Callcenter-Mitarbeitern der Firma Sanvartis in Nordrhein-Westfalen. Während andere Kassenärztliche Vereinigungen den Dienst selbst auf die Beine zu stellen versuchen, hatte man sich bei der KVN entschieden, den Aufbau der Patienten-Servicenummer europaweit auszuschreiben. Insgesamt 70 Mitarbeiter kümmern sich im Sanvartis-Callcenter nun um Bürger aus Niedersachsen, denen es nicht gut geht und die die Hotline angerufen haben. Schon zu Jahresbeginn kurz nach der Umstellung hatten sich Patienten über Probleme mit der Nummer beschwert, jetzt erhebt auch ein Psychotherapeut aus Burgwedel in der Region Hannover schwere Vorwürfe. Er hat sich direkt an die Kassenärztliche Vereinigung in seinem Bezirk sowie an Landes- und Bundespolitiker gewandt. Der Arzt Hans Jürgen Niedermeyer engagiert sich seit gut 35 Jahren im Notdienst und spricht von „gravierenden  Verschlechterungen“ und einem „fahrlässigen Rückschritt in der Versorgung der Patienten“, durch den sogar Leben gefährdet werden könnten, Kollegen hätten wie er ähnliche Erfahrungen mit dem neuen System gemacht.

Zu lange Wartezeiten in der Hotline

Aus seinen fünf Nachtschichten im Juni berichtet Niedermeyer von zu langen Wartezeiten. Die Hälfte der Patienten hätte am Telefon zwischen fünf und 60 Minuten in der Warteschleife gehangen, bei einigen sei auch mehrmals die Leitung unterbrochen gewesen, so dass sie erneut anrufen mussten. Zudem dauere es manchmal bis zu 90 Minuten, bis die Zentrale in NRW die Aufträge an den Arzt vor Ort weitergebe. Der Psychotherapeut hat auch Zweifel daran, dass die Mitarbeiter im Callcenter für ihre Aufgabe qualifiziert genug sind. Sie arbeiten mit einem Standard-Fragebogen, scheinen aber schnell überfordert zu sein, wenn Patienten bei ihren Antworten von dem Bogen abweichen. Niedermeyer stellt fest, dass die Qualität der Daten, die an die Ärzte vor Ort übermittelt wird, schlechter geworden ist.
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Die Kassenärztliche Vereinigung beschäftigt sich derweil intensiv mit der neuen zentralen Hotline, hat sich auch bereits mit Niedermeyer in Verbindung gesetzt. Zweimal hat es laut KVN bisher größere Probleme gegeben. Bei der Umstellung des Systems zu Jahresbeginn hatte man mit 4000 Anrufern pro Tag gerechnet, es wurden dann 6000. Die Folgen: Anrufer mussten lange warten, die Leitungen brachen immer wieder zusammen. Hatte man das erste Problem im Griff, kam umgehend das zweite: die Corona-Krise. Durch sie hat sich die Zahl der Anrufer laut KVN verdreifacht. Inzwischen wählten mehr als 20.000 Menschen täglich die 116-117, teilweise auch, um dort nach den Öffnungszeiten des Kindergartens zu fragen oder weil sie wissen wollen, ob Fußballspiele bei ihnen vor Ort denn nun stattfänden. „Corona hat uns zurückgeworfen“, räumt Detlev Haffke, Sprecher der KVN, im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick ein.

Callcenter fehlen geeignete Mitarbeiter

Die Arbeit mit dem Standard-Fragebogen sieht man bei der KVN grundsätzlich positiv. Durch acht bis zehn Fragen soll der Mitarbeiter im Callcenter einschätzen können, ob für den Patienten ein Termin beim Hausarzt am nächsten Tag ausreicht, der Bereitschaftsarzt kommen oder sogar der Krankenwagen gerufen werden muss. „Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, dass eine solche Einschätzung in der Regel zwischen fünf und sieben Minuten dauert. Ab und zu braucht man auch 15 Minuten, zum Beispiel wenn der Patient am anderen Ende der Leitung sehr aufgeregt ist“, erklärt KVN-Sprecher Haffke. Wenn drei Patienten in einem Gebiet angerufen haben, wird der entsprechende Bereitschaftsarzt informiert. Die Wartezeit an der Hotline liege niedersachsenweit an einem Tag im Durchschnitt bei drei Minuten und vier Sekunden. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede. Am Sonnabend und Sonntag zwischen 6 und 9 Uhr kommen die häufigsten Anrufe, dann kann es auch einmal eine Viertelstunde dauern, bis man einen Mitarbeiter am Apparat hat.
Man muss die Vorwürfe auf jeden Fall ernst nehmen und prüfen, ob es Fehler im System gibt.
Mit den Mitarbeitern steht und fällt ohnehin die Qualität der Dienstleistung. Haffke räumt ein, dass früher einem DRK-Rettungssanitäter am Telefon die Einschätzung möglicherweise leichter gefallen sein könnte. Allerdings müssten die Mitarbeiter von Sanvartis auch eine medizinische Vorbildung aufweisen. Am Telefon säßen dort zum Beispiel Arzthelferinnen, Medizinstudenten oder Notfallsanitäter. Allerdings gäbe es im Moment massive Probleme damit, Callcenter-Mitarbeiter zu finden. Thela Wernstedt, SPD-Abgeordnete und selbst Ärztin, hält es für schwierig, wenn den Mitarbeitern in einem Callcenter in Nordrhein-Westfalen die lokalen Kenntnisse fehlten. Auch die Standard-Checkliste, die im Prinzip eine gute Idee sei, müsse von Menschen ausgefüllt werden, die entsprechende Kenntnisse hätten. „Man muss die Vorwürfe auf jeden Fall ernst nehmen und prüfen, ob es Fehler im System gibt“, meint Wernstedt.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #137.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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