
Eduard
Bau- und Rohstoffe aus Niedersachsen haben ab sofort eine Art Fairtrade-Siegel: Der Arbeitgeberverband Vero und die IG Bau haben am Dienstag in Hannover eine Sozial-Charta unterzeichnet, um gemeinsam Arbeitsplätze und Rohstoffgewinnung abzusichern. „Damit beginnt in Niedersachsen eine neue Ära in der Rohstoffgewinnung für den Bau: Niedersachsen produziert quasi ‚sozialen Sand‘ und ‚fairen Kies‘. Auch mehr Nachhaltigkeit bei Natursteinen ist angesagt“, erläuterte IG-Bau-Landeschef Eckhard Stoermer den „Branchen-Deal mit sozialem und ökologischem Akzent“. „Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird die Welt ab morgen keine völlig andere sein“, meinte der Landesvorsitzende Nico Steudel vom Verband der Bau- und Rohstoffindustrie (Vero).
Mit dem gemeinsamen Eckpunktpapier werde man jedoch Baumaterial „grüner machen“, CO2-Emissionen reduzieren und das Recycling auf dem Bau vorantreiben. Laut Steudel verfolgt die Branche aber noch ein anderes Ziel. „Es geht darum, eine drohende Versorgungsknappheit bei Gütern, die ohnehin teurer werden, abzuwenden“, sagte der Geschäftsführer der Unternehmensgruppe Rhein-Umschlag aus Oldenburg, die pro Jahr etwa 1,7 Millionen Tonnen Baustoffe fördert und in der Regel per Binnenschiff ausliefert. Aufgrund von auslaufenden Genehmigungen drohe der niedersächsischen Bauwirtschaft ein Baustoffmangel. „Der Rohstoff ist da, aber wir werden ihn nicht abbauen können. Wir werden genehmigungsseitig ein Problem bekommen“, sagte Steudel.

Laut dem Vero-Landeschef ist die Lage ernst. „Bei einem Drittel der Sand- und Kieswerke reichen die Vorräte, für deren Abbau keine Genehmigung vorliegt, keine fünf Jahre mehr. Ein weiteres Drittel hat genehmigte Vorräte von maximal zehn Jahren“, sagte Steudel. In der Natursteinindustrie würden bis 2027 jedem sechsten Betrieb die Ressourcen ausgehen. Vor 25 Jahren, als der Baustoffunternehmer noch frisch im Geschäft war, sei eine solche Ausgangslage kein Grund zur Besorgnis gewesen. Damals habe ein Genehmigungsverfahren einen DIN-A4-Ordner umfasst und mehrere Monate gedauert. Heute müsse man für die Unterlagen mehrere Meter im Regal freiräumen und die Genehmigungsdauer liege bei bis zu zehn Jahren. „Das Verfahren muss deutlich gestrafft werden“, forderte Steudel und sagte: „Eine Politik, die den Menschen Wohnungen verspricht, muss auch die Gewinnung von Rohstoffen genehmigen.“
In Niedersachsen werden pro Jahr etwa 40 Millionen Tonnen Sand und Kies in rund 400 Abbaustellen gewonnen, das ist ein Sechstel der gesamten deutschen Produktionsmenge. Die Jahresproduktion von Natursteinen, die in der Baustoffindustrie überwiegend als Splitt und Schotter zum Einsatz kommen, liegt bei 10 Millionen Tonnen. Der allergrößte Teil der Rohstoffe wird direkt in Niedersachsen verwendet, laut des jüngsten Rohstoffsicherungsberichts des LBEG werden sogar mehr als zwei Drittel der Ressourcen innerhalb von 50 Kilometern ausgeliefert. Die wichtigsten Abnehmer sind der Straßen-, Brücken- und der Wohnungsbau. Für jedes Einfamilienhaus mit einer Grundfläche von 120 Quadratmetern würden rund 355 Tonnen Sand, Kies, Ton oder Naturstein benötigt. Für eine durchschnittliche Windkraftanlage sind rund 2000 Tonnen Sand und Kies erforderlich, die größtenteils im Fundament verbaut werden. Ein Kilometer Autobahn verbraucht etwa 30.000 Tonnen.
Mit großer Sorge blickt die Baustoffbranche auf die Preissteigerungen für Rohstoffe und die Gasknappheit. „Es ist eine schwierige Situation, die mich manchmal nicht schlafen lässt. Überall explodieren die Preise. Ich bin jetzt 29 Jahre dabei, aber sowas habe ich noch nicht erlebt“, sagte Vero-Hauptgeschäftsführer Raimo Benger. In der Ziegelindustrie hätten viele Betriebe aufgrund der hohen Energiekosten die Produktion bereits heruntergefahren oder eingestellt. Der für den Straßenbau unverzichtbare Bitumen sei ebenfalls knapp. „Und für die Steinbrüche bekommen wir nur noch schlecht Sprengstoffe“, berichtete Benger. Für die Glasindustrie, die zu den wichtigsten Abnehmern der jährlich etwa 1,8 Millionen Tonnen Quarzsand aus Niedersachsen gehört, könnte ein vollständiger Gas-Stopp zum Fiasko werden: Die Schmelzwannen in den Glashütten würden sich bei einer Temperaturreduzierung zusammenziehen und kaputt gehen. Die Bundesnetzagentur hat deswegen auch klar gemacht, dass die Glasindustrie in den „geschützten Bereich“ im Falle eines russischen Gasembargos aufgenommen wird.
„Das Gas kann uns noch große Sorgen machen. Kommt der Lieferstopp, wird es schwierig“, bestätigte auch Peter Riedel, Abteilungsleiter für Baustoffindustrie bei der IG Bau. „Auch die Kolleginnen und Kollegen können teilweise nicht mehr schlafen mit dem Druck, der auf ihren Schultern liegt“, erzählte der Gewerkschafter und betonte mit Blick auf die Inflation, dass die Beschäftigten in der Baustoffindustrie auf ihr Einkommen angewiesen sind. „Die haben keine Riesen-Sparkonten“, mahnte Riedel und forderte im Ernstfall von der Politik einen „Schutzschirm für die Branche“. Der Vero-Hauptgeschäftsführer versicherte, dass man den Arbeitnehmern bei den nächsten Tarifverhandlungen so weit wie möglich entgegenkommen will. „Wir müssen sehen, dass die Beschäftigten nicht den Kürzeren ziehen“, sagte Benger.

Der Branchenverband Vero warnte zudem vor der Einführung einer staatlichen Förderabgabe für Sand und Kies, wie sie von Schwarz-Grün in Nordrhein-Westfalen geplant ist. „Sollte das Land Niedersachsen auf die Idee kommen, hier eine neue Einnahmequelle aufzutun, hätte das fatale Folgen: Das Bauen und damit letztlich auch das Wohnen würden unnötig teurer gemacht“, sagte Steudel. Ein sogenannter „Kies-Euro“ würden außerdem vor allem das Land und die Kommunen belasten. „60 Prozent unserer Produktion landen am Ende in öffentlicher Hand“, so der Vero-Landeschef.
Schon jetzt macht der Baustoffindustrie der allgemeine Mangel an Arbeitskräften zu schaffen. „Wir könnten noch ein paar Auszubildende und Studenten gebrauchen“, meinte Benger. Die neue Sozial-Charta sieht er deswegen als Chance, die Jobs sicherer zu machen und gute Ausbildung zu garantieren. „Für die Arbeitnehmer ist einer der zentralen Punkte, dass wir die Mitbestimmungen in den Betrieben besonders stärken wollen“, kommentierte IG-Bau-Landeschef Stoermer das Engpunktepapier mit seinen insgesamt 21 Punkten. Auch die Stärkung der Tarifbindung wird dort angesprochen. „Fast alle unserer Unternehmen sind tarifgebunden“, berichtete der Vero-Hauptgeschäftsführer und bekräftigte: „Flächentarife mit Öffnungsklauseln sind wichtig für den sozialen Frieden.“ Gewerkschafter Riedel kommentierte dazu: „Ich sage nicht, dass wir in einem Top-Lohnbereich gelandet sind, aber wir sind auf einem guten Weg.“
Für den DGB-Bezirksvorsitzenden Mehrdad Payandeh ist die Sozial-Charta ein „Leuchtturmprojekt“, weil sie soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit zum Ziel hat. Mit der Vereinbarung gebe die Baustoffindustrie eine Antwort auf den Fachkräftemangel, der „das Wachstumshemmnis Nummer 1“ sei. Payandeh: „Die Branche setzt hier auf Innovation, Effizienz und Produktivität – und nicht auf billig, billig.“
