
Das Autoland Niedersachsen steht unter Zugzwang. „Die Automobilwirtschaft erlebt aktuell den größten Umbruch ihrer Geschichte“, sagte am Mittwoch Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU). Der Branche, die in Niedersachsen direkt oder indirekt für mehr als 350.000 Arbeitsplätze sorgt, bleibe nur noch wenig Zeit um im Wettrennen zu Klimaneutralität und Elektromobilität nicht den Anschluss zu verlieren. „Es drängen chinesische Automobilhersteller mit qualitativ hochwertigen Fahrzeugen auf den Markt. Entscheidend wird es sein, den Qualitätswettbewerb zu gewinnen“, mahnte Althusmann und betonte auch mit Blick auf VW-Konkurrent Tesla: „Wir müssen aufholen.“ Wie das gelingen soll, darüber sprachen Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft bei einer Konferenz zum bereits 2019 gestarteten „Strategiedialog Automobilwirtschaft in Niedersachsen“.

„Niedersachsen soll auch in Zukunft ein Autoland sein. Unser Wunsch ist, dass möglichst viel heimische Wertschöpfung in den Fahrzeugen steckt“, gab Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) als Zielrichtung vor. Viele Veränderungen auf dem Weg hin zu immer mehr Elektromobilität, Digitalisierung, autonomem Fahren und zu Carsharing seien bereits eingeleitet worden. Gelingen werde die Transformation aber nur, "wenn alle Beteiligten in einem Unternehmen an einem Strang ziehen – Management und Beschäftigte“. Bei den Podiumsdiskussionen wurde allerdings deutlich, dass die Volkswagen AG sich in einigen Punkten nicht abstimmen, sondern die Richtung vorgeben will.
„Das Verhältnis zu den Zulieferern wird sich verändern und neu auszudiskutieren sein“, sagte VW-Cheflobbyist Thomas Steg und kündigte an, dass der Autobauer in den Lieferketten und bei der Produktion von Zubehör unabhängiger werden möchte. Bei Niedersachsen-Metall-Hauptgeschäftsführer Volker Schmidt, der mit seinem Verband rund 320 Zuliefererbetriebe vertritt, schrillten da die Alarmglocken. Im Verhältnis zwischen Fahrzeugherstellern und Zulieferern seien letztere schon jetzt massiv im Nachteil. „Wir sind von der Partnerschaft auf Augenhöhe derzeit Lichtjahre entfernt“, sagte Schmidt. Die Not vieler Zulieferer sei angesichts von extremen Verteuerungen bei Rohstoffen und explodierenden Energiekosten mit Händen zu greifen. Auch die Fahrzeughersteller würden diese Not mit dem Herauf- und Herabfahren der Produktion noch befeuern. In Richtung VW & Co. sagte der Metallverbandschef deswegen: „Wenn Ihr eine funktionierende Partnerschaft haben wollt, dann müsst ihr den Zulieferern entgegenkommen.“
„In die Qualifizierung muss jetzt auch ordentlich was reingebuttert werden."
Thorsten Gröger, Bezirkschef der IG Metall
Thorsten Gröger, Bezirkschef der IG Metall Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, beklagte die große Unsicherheit, in der sich die Beschäftigten der Autobranche befinden. „Wenn wir unsere Kollegen fragen: Wie ist denn die Zukunftsperspektive? – Da sagen mehr als die Hälfte: Wir wissen noch gar nicht, wo die Reise hingeht“, berichtete Gröger und forderte schnell Klarheit: „Wir brauchen Beschäftigungsperspektiven, Sicherheit und auch Perspektiven dafür, dass gute Beschäftigung unter guten Bedingungen stattfindet.“ Man müsse die Beschäftigten durch Weiterbildung für die Arbeit der Zukunft fit machen, wozu erhebliche Summen nötig sein. „In die Qualifizierung muss jetzt auch ordentlich was reingebuttert werden“, forderte Gröger. Große Hoffnungen setzt der Gewerkschafter in die neue Transformationsagentur, die mit Qualifizierungs-, Beratungs- und Förderangeboten die Unternehmen und Belegschaften im Wandel unterstützen soll. Auch der Arbeitgebervertreter verspricht sich viel von der Agentur, die bundesweit einzigartig ist. Schmidt: „Das ist unser Verständnis von gelebter Sozialpartnerschaft. Nur gemeinsam kriegen wir das hin.“
Kritik an VW-Strategie: Der Volkswagen-Konzern sorgte zuvor schon einer Expertenrunde für Misstöne. „Wie das Auto der Zukunft angetrieben wird – diese Entscheidung ist gefallen“, sagte VW-Cheflobbyist Thomas Steg und bekräftigte: „Die Zukunft der Mobilität ist eindeutig elektrisch.“ Doch Ferry Franz vom weltgrößten Fahrzeughersteller Toyota widersprach dem Repräsentanten des inzwischen nur noch zweitgrößten Autobauers. „Gemäß unseres Anspruchs ‚Mobilität für alle‘ sehen wir Technologieoffenheit als den Königsweg bei der Frage der Antriebstechnologie, sagte Franz, der für den japanische Fahrzeugbauer das Geschäftsfeld Wasserstoff in Europa leitet. „In anderen Gegenden der Welt sind wir noch länger auf Verbrennungsmotoren angewiesen. Alles, was zur Verminderung von CO2 beiträgt, ist sinnvoll“, verteidigte Franz die klimafreundlichen Alternativen zum batterieelektrischen Fahrzeug (BEV).
"Angesichts der Herausforderung beim Klimaschutz wäre es fahrlässig, sich auf nur eine Technologie festzulegen."
Kurt-Christoph von Knobelsdorff, Geschäftsführer der NOW GmbH
Auch die anderen Experten kritisierten die einseitige Ausrichtung von Volkswagen auf batteriebetriebene Elektromobilität. „Angesichts der Größe und der Schwierigkeit der Herausforderung beim Klimaschutz wäre es fahrlässig, sich auf nur eine Technologie festzulegen“, meinte auch Kurt-Christoph von Knobelsdorff, Geschäftsführer der NOW GmbH. Die Nationale Organisation Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie begleitet und steuert im Auftrag der Bundesregierung den Wandel zur Mobilität und Energieversorgung der Zukunft. Für von Knobelsdorff steht fest: „Wenn es darum geht, neue Infrastrukturen aufzubauen, müssen wir zweigleisig fahren.“ Aus Sicht des NOW-Chefs stehen batteriebetriebene Mobilität, synthetische Kraftstoffe und Antriebstechnologien mit Wasserstoff oder Brennstoffzellen auch nicht in Konkurrenz zueinander – schließlich basieren alle auf Elektrizität.
„Ich gehe davon aus, dass wir in Deutschland 2030 bei den neu zugelassenen Fahrzeugen einen Anteil von Autos mit Stecker von 90 Prozent haben werden“, sagte Steg. Die VW-Strategie, in allen Bereichen – selbst bei schweren Nutzfahrzeugen – auf die Batterie zu setzen, verteidigte der Generalbevollmächtigte und Leiter Konzern Außenbeziehungen als gut überlegt und bis ins Detail durchgerechnet. Zudem betonte Steg, dass die direkte Nutzung des Stroms als Antriebsquelle viel effizienter sei als wenn man den Umweg über Wasserstoff gehe. NOW-Chef von Knobelsdorff wies diese „vorgeschobenen Effizienzargumente“ allerdings zurück. Die VW-Rechnung gehe nicht auf in Hinblick auf ein Gesamtenergienetz, in dem nicht immer ein Kraftwerk für erneuerbare Energien um die Ecke steht. Wenigstens im Bereich Nutzfahrzeuge müsse man auch auf alternative Antriebsarten setzen. Als Vorteile zählte von Knobelsdorff die geringere Nutzlast, höhere Flexibilität und Reichweite auf sowie die Kosten für Schnelllader, die mit der Größe der Batterien nach oben schießen.
"Ja, wir werden in der Zukunft zu wenig Wasserstoff haben. Aber das gilt genauso für erneuerbaren Strom."
Prof. Richard Hanke-Rauschenbach, Leibniz-Universität Hannover

Experten setzen auf Wasserstoff: Steg führte außerdem ins Feld, dass Wasserstoff vorrangig für Schiffe, Flugzeuge sowie die Industrieproduktion benötigt werde. „Nach allem, was wir wissen, wird der Bedarf für diese Bereiche 2030 nicht ausreichend gedeckt sein“, betonte der VW-Cheflobbyist. „Ja, wir werden in der Zukunft zu wenig Wasserstoff haben. Aber das gilt genauso für erneuerbaren Strom“, wandte Prof. Richard Hanke-Rauschenbach ein. Der Leiter des Instituts für Elektrische Energiesystem an der Leibniz-Universität Hannover betonte, dass der batteriebetriebene Elektromotor im Pkw-Sektor eine hohe Klimawirkung und einen praktischen Sinn habe. Für den Nutzfahrzeugbereich gelte das so aber nicht. „Es gibt Bereiche, wo der Wasserstoff seine Vorteile hat“, sagte Hanke-Rauschenbach und machte deutlich, dass die Dekarbonisierung ohne Wasserstoff kaum möglich sei.
Auch Geert Tjarks, der beim Energieunternehmen EWE für das Geschäftsfeld Wasserstoff verantwortlich ist, bestätigte, dass neben der Industrie auch der Verkehrssektor mit dem Gas beliefert werden könne. „Wir stehen vor der Herausforderung, Sektoren mit Energie zu versorgen, die wir vorher nicht versorgt haben. Wir werden zukünftig in Deutschland sowieso Wasserstoff in großen Mengen speichern müssen, um das System zu flexibilisieren“, sagte Tjarks. Wasserstoff habe zudem den großen Vorteil, dass man ihn in großen Mengen importieren könne. Auch Professor Hanke-Rauschenbach stellte klar: „Wir werden ein Energieimportland und kein Exportland.“