Die Zukunft, so viel lässt sich auf einen Blick erkennen, ist eine umkämpfte Sache. Nicht weniger als 31 verschiedene Redebeiträge sind an diesem Tag auf dem alten Rittergut Erichshof in Gehrden bei Hannover vorgesehen. Und das in gerade einmal drei Stunden. Entsprechend schnell gerät der Zeitplan aus den Fugen. Die Zukunft wartet eben nicht, bis alles ausdiskutiert ist. Dem Ministerpräsidenten dürfte das Programm dennoch gut gefallen haben. Olaf Lies (SPD) hat sich mehr als nur drei Stunden Zeit genommen, um mit den Anwesenden in den Austausch zu kommen. Nach seinem Grußwort ist nicht etwa Schluss, wie das sonst häufiger der Fall ist, wenn Regierungsmitglieder auf Verbandstagungen auftauchen und schnell wieder abrauschen. Das Format entspricht genau dem Politikmodell des neuen Regierungschefs. Sein Rezept: Alle an einen Tisch bringen, insbesondere jene Gesprächspartner, die einander lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden. Erprobt hat er das bereits im Dialog mit Landwirtschaft und Umweltverbänden. An diesem Dienstag im Oktober sind es wieder die Landwirte, nun allerdings zusammen mit dem Handel.
Organisiert hat diesen ersten „niedersächsischen Zukunftsdialog“ die Stiftung von Edeka Minden-Hannover, der größten der sieben Regionalgesellschaften des Lebensmittelhändlers, deren Zuständigkeit von der niederländischen bis zur polnischen Grenze reicht. Landwirtschaft, Handel und Politik sollen hier gemeinsam daran arbeiten, wie die Akteure mit ihren verschiedenen Interessen entlang der Produktionskette besser zusammenarbeiten können. „Das sind nicht drei voneinander getrennte Bereiche“, erklärte gleich zu Beginn Mark Rosenkranz, der Vorstandssprecher von Edeka Minden-Hannover. Was auf dem Feld der Landwirte wächst, erreiche schließlich früher oder später die Edeka-Kunden. Wie gut sich das fügt, hängt derweil häufig von politischen Rahmenbedingungen ab. Dass es sich zuletzt eher nicht so gut gefügt hatte, war nun der Auslöser dieser Zusammenkunft. Als Rosenkranz im Jahr 2020 eigentlich das hundertjährige Bestehen seines genossenschaftlichen Unternehmens feiern wollte, blockierten die Landwirte mit ihren Schleppern die Logistikstandorte des Einzelhändlers. Sie beklagten damals die schlechte wirtschaftliche Lage und zu hohe Auflagen. Die Lieferketten wurden gestört, woraus ein „nicht unerheblicher wirtschaftlicher Schaden“ entstanden sei, berichtet Rosenkranz. Wie er das sagt, klingt es fast wie ein kleines Abzeichen, das er den Demonstranten von damals anheften will. Denn genau diese sitzen nun mit in der großen Scheune des Ritterguts, die für diesen Tag mit viel Aufwand zu einem Tagungssaal umdekoriert wurde.
Dass man sich auf einem landwirtschaftlichen Betrieb trifft, und nicht „irgendwo in einem Plüschhotel“, findet Ministerpräsident Lies besonders gut. Er erkennt ein Zeichen des Entgegenkommens – und des Realitätssinns, den er auch an anderer Stelle zurzeit vielfach beschwört. „2020 hätte man auch sagen können: Das machen wir nicht mehr“, sagt er in Erinnerung an die verhärteten Fronten von damals. Der Unmut der Landwirte sei stetig gewachsen, der Protest gegen den Lebensmitteleinzelhandel vehement. Doch eine Gruppe vermisst der SPD-Politiker immer noch: „die Kunden, die am Ende alles entscheiden.“ Es bringe ja nichts, sich gemeinsam etwas auszudenken, was dann nicht funktioniert. Ihn treibe schon um, dass „die Gesellschaft ein Stück weit verunsichert ist und sich Sorgen um die Zukunft macht.“ Während der Corona-Pandemie habe man erleben können, wie die Verbraucher noch mehr Wert auf regionale Produkte und hohe Qualität gelegt hätten. Doch das habe sich geändert: „Auch die Kunden sind heute preissensibler geworden.“ Niedersachsen dennoch als Agrarland zu bewahren, ist für Olaf Lies aus unterschiedlichen Gründen von Bedeutung. Natürlich gehe es dabei um die Gunststandorte mit guten Böden und die wirtschaftliche Existenz der gut 34.000 Betriebe im Land. Die regionale Versorgung mit Lebensmitteln sei inzwischen aber auch ein Sicherheitsfaktor geworden. Im Zuge der Überlegungen, wie sich das Land für den Verteidigungsfall vorbereiten muss, gehe es auch um die Frage, wie die Ernährung der Bevölkerung gesichert werden kann: Wie werden Lebensmittel regional produziert, wie eingelagert und wie verteilt? Diese Frage spielt zumindest indirekt auch eine Rolle, wenn über die Zukunft der heimischen Landwirtschaft gesprochen wird.

An der Klage der Branche ist derweil wenig neu, was einen Eindruck gibt, wie wenig sich in den vergangenen Jahren tatsächlich getan hat. Der Kunde wünsche sich vorm Laden mehr Tierwohl, mehr Nachhaltigkeit und mehr Regionalität. Doch an der Ladenkasse wähle er dann das billigere Produkt, klagt Edeka-Chef Rosenkranz. Seine Antwort lautet: verstärktes Regional-Marketing und spezielle Lieferketten, die regionale Erzeuger und Märkte eng aneinanderbinden. Manfred Tannen, Vizepräsident der Landwirtschaftskammer, erkennt bei den Landwirten schon viel Eigenmotivation, nachhaltiger zu wirtschaften – weil damit auch Kostenersparnisse einhergehen. Wer weniger Dünge- oder Pflanzenschutzmittel ausbringt, muss auch weniger davon einkaufen. Beim Tierwohl zweifelt aber auch Tannen die Ehrlichkeit des Verbrauchers an. Politisch sei das Thema ausdiskutiert, der Fahrplan liege seit der Borchert-Kommission auf dem Tisch. Doch scheinbar habe man sich davon komplett verabschiedet. Mindestens die Hürden im Baurecht müssten abgeschafft werden. Clemens Tönnies, Chef eines Schlachthof-Imperiums mit sechs Betriebsstandorten in Niedersachsen, zeigt sich „todtraurig“ über die Entwicklung beim Gesetzgebungsverfahren zur Tierhaltungs-Kennzeichnung. „Den Tieren soll es besser gehen, das muss aber auch bezahlbar bleiben, und es muss entlang der Kette fair bleiben“, sagt er und überzeugt viele in der Scheune mit dem simplen Satz: „Der Landwirt muss von dem leben können, was er produziert.“

Ministerpräsident Lies erkennt den Handlungsbedarf an und beklagt eine Misstrauenskultur, die sich breitgemacht habe. Das Misstrauen sei „die Wurzel des Übels“, sagte er. Statt alles dokumentieren und nachweisen zu lassen, wünscht er sich eine Vertrauenskultur. Auch dann soll es noch Kontrollen geben und entsprechende Konsequenzen bei Verstößen gegen bestimmte Regeln. Lies möchte nach eigenen Worten aber davon wegkommen, alles aus Hannover heraus zu entscheiden. Er möchte, „die Verantwortung bei denjenigen lassen, die es umsetzen“ und „vor Ort mehr Entscheidungsspielraum“ geben. „Das Ermessen auszuüben, müssen wir wieder lernen.“ Der Regierungschef ist der Ansicht, dass viele Detailbestimmungen auch daher rühren, dass irgendwann mal etwas passiert sei oder irgendjemand mal eine klare Ansage gefordert hat, wie er im Konkreten eine Vorgabe zu erfüllen hat. Also: Überregulierung als Folge von verunsicherten Anwendern. Frauke Patzke, Staatssekretärin im Agrarministerium von Miriam Staudte (beide Grüne), sagt dazu: „Die Regeln sind aus guten Gründen erfunden worden.“ Möchte man nun bestimmte Gesetze oder Verordnungen wieder streichen, müsse dies behutsam geschehen, weil vieles aufeinander aufbaue, erklärt sie. Zudem gibt sie zu bedenken, dass im Agrarbereich gut 90 Prozent der Bestimmungen auf das EU-Recht zurückzuführen seien. Nichtsdestotrotz sei man dabei, lautet die Botschaft der Agrar-Staatssekretärin. Sie bittet um Geduld und ebenfalls um Vertrauen. Denn eine Kultur des Vertrauens sei keine Einbahnstraße, sagt Patzke. Es gelte, gegenseitiges Vertrauen zurückzugewinnen: Vertrauen in die Landwirte, dass sie im Sinne der Ernährungssicherheit und zum Wohle der Tiere handeln – und umgekehrt ein Vertrauen in Politik und Verwaltung, dass dort nicht aus Boshaftigkeit Regeln aufgestellt werden. Frank Kohlenberg, Vizepräsident des niedersächsischen Landvolks, erinnerte in diesem Zusammenhang an einen umfangreichen Forderungskatalog, in dem der Bauernverband detailliert aufgelistet hat, welche bürokratischen Vorgaben gestrichen werden könnten.

Am Ende des „Zukunftsdialogs“ trifft der Ministerpräsident noch auf die nächste Generation: Junglandwirte und Jungunternehmer schildern dem Regierungschef, wo aus ihrer Sicht der Schuh drückt. Dabei machen sie deutlich, wie sehr sie ihre Arbeit an sich lieben. Doch dann sind da die Apps, die einem immer wieder Aufträge erteilen, bestimmte Bereiche des Betriebs zu fotografieren, wie etwa Max Klockemann, Vorsitzender der Junglandwirte Niedersachsen, berichtet. Oder die doppelte Dokumentation der Tierzahlen, über die Lars Ruschmeyer, der Bundesvorsitzender der Landjugend, klagt. Dokumentationspflichten belasten auch den Edeka-Einzelhändler Philip Schinck, der sich darüber ärgert, dass 80 Prozent der Kassenbons direkt im Mülleimer landen. Sein Berufskollege Kevin Schneevoigt wiederum ärgert sich über unnötige Behördengänge und uneinheitliche Vorgaben je nach Kommune, die ihm die Gründung neuer Filialen erschweren, sowie über widersprüchliche Bestimmungen zum Bodenbelag: Der Arbeitsschutz verlange geriffelten Untergrund, die Hygienevorschriften hingegen glatten.
Die Antwort des Ministerpräsidenten auf alle Sorgen der Branche lautet im Grunde: Vertrauen. Die Foto-Apps für Landwirte oder auch die Bonpflicht seien Ausdruck des Misstrauens – „als ob es das eigentliche Ziel der Kasse sei, zu betrügen.“ Man werde nicht umhinkommen, das Einhalten von Regeln auch zu überprüfen. Im Moment sei es aber so, dass zwei Prozent, die sich nicht an Regeln halten, dazu führen, dass die anderen 98 Prozent permanent kontrolliert werden. Was die Lösung angeht, bleibt Lies noch vage. Er verweist auf digitale Lösungen und auf die Register-Modernisierung, die zumindest doppelte Meldungen künftig verhindern soll. Und dann appelliert er wieder an die Eigenverantwortung. „Wenn wir Vorgaben machen, und sie sind widersprüchlich, dann ist das ein Problem“, erkennt Olaf Lies an. Die „Regel-Wut“, rechtfertigt er auch hier, sei aber häufig entstanden, weil sich jemand habe absichern wollen. Überträgt man die Verantwortung wieder an den Einzelnen, dürfe aber nicht der Schutz in neuen Regeln gesucht werden.
Die Botschaft des Ministerpräsidenten an Landwirte und Handel dürfte angekommen sein. Jetzt muss sie nur noch in Politik umgesetzt werden. Aber das Treffen auf dem Gut Erichshof soll ja auch erst ein Auftakt gewesen sein.


