9. Aug. 2018 · 
Inneres

Aus „Gefahrenabwehr“ werden Regeln zur Verhütung von Gefahren

Im Landtag hat gestern die mehrtägige Anhörung zum geplanten neuen Polizeigesetz der Großen Koalition begonnen. Dabei ist scharfe Kritik an den Regeln laut geworden, mit denen Sozial- und Christdemokraten die Arbeit der Polizei erleichtern wollen. Gleichzeitig wurde aber auch viel Verständnis und sogar Lob geübt. Die Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel erklärte, die Regierungsparteien wollten „unter dem Deckmantel, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, die Freiheitsrechte der Bürger bis zur Unkenntlichkeit beschneiden“. Der hessische Polizeirechtsexperte Prof. Mattias Fischer meinte hingegen, das geplante Gesetz schließe endlich eine Lücke – denn seit der letzten Novelle von 2007 hätten sich die Rechtsprechung, die technischen Möglichkeiten und die Aktionsfelder der Kriminellen erheblich ausgeweitet.
Möchten Sie den Inhalt von www.facebook.com laden?
Kritik entzündet sich vor allem an drei Punkten. Erstens sollen Gefährder, die noch keine Straftat begangen haben, aber unter erheblichem Terrorismusverdacht stehen, bis zu 74 Tage lang inhaftiert werden können. Nach dem bisherigen Recht beträgt die Frist zehn Tage. Zweitens kommt eine neue Rechtsgrundlage hinzu, damit Polizeibeamte mit Kameras, sogenannten „Bodycams“, Filmaufnahmen machen können. Drittens werden mehrere Befugnisse der Polizei neu formuliert, so das Recht, neben dem Abhören von Telefonen zur Gefahrenabwehr auch mittels Spionagesoftware Computer überwachen zu können. Galt bisher als Eingriffsschwelle, die für das Tätigwerden der Polizei überschritten werden muss, eine „konkrete Gefahr“, so ist im Gesetzentwurf nun von einer „drohenden Gefahr“ oder „dringenden Gefahr“ die Rede. Das heißt: Bei wesentlich weniger Anhaltspunkten als bisher soll die Polizei künftig schon tätig werden können. Die „konkrete Gefahr“ verlangt Hinweise, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft eine Straftat eintritt. Die „drohende Gefahr“ sagt nichts über mögliche Zeithorizonte aus. Der Gesetzentwurf knüpft in diesen Formulierungen allerdings an die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz an. Kritiker meinen, die Freiräume der Polizei würden viel zu groß werden.

Viele Begriffe im Gesetzentwurf zu unklar

Der Osnabrücker Verfassungs- und Verwaltungsrechtler Prof. Jörn Ipsen betonte, dass es Grundrechte auf Datenschutz und Schutz der eigenen Computer in Gesetzesform gar nicht gebe – alles, was dazu vorgegeben sei, stamme aus Verfassungsgerichtsurteilen, die andere Grundrechte interpretieren. Auch Ipsen sieht in dem Entwurf eine erhebliche Veränderung: Es gehe nicht mehr nur um Gefahrenabwehr, sondern „um Kriminalitätsverhütung“, die sehr viel weiter vorgelagert sei. Gleichwohl sieht er keinen Verfassungsverstoß, auch nicht in der Ausweitung der Präventivhaft auf 74 Tage. Immerhin müsse nach 30 und nach 60 Tagen jeweils ein Richter entscheiden, ob diese schwerste aller Maßnahmen festgesetzt werden soll. Prof. Mattias Fischer von der hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung meinte, man könne nie abschätzen, inwieweit das Bundesverfassungsgericht später die im niedersächsischen Gesetz festgelegten Hürden akzeptieren oder als zu weitgehend verwerfen werde. Viele Begriffe im Gesetzentwurf seien allerdings zu unklar definiert (so zu der Frage, wie ein Gefährder von der Polizei angesprochen werden soll). Bevor ein Gefährder eine „elektronische Fußfessel“ zur Überwachung tragen soll, müsse eine richterliche Entscheidung stehen – diese Bedingung fehlt bisher im Gesetzentwurf. Dass mit der „Bodycam“ ein Polizist heimlich filmen könne, bevor er deren Betrieb offiziell startet, sei ebenfalls problematisch – „das passt auch nicht zur erhofften abschreckenden und deeskalierenden Wirkung des Einsatzes“, meint Fischer. Die Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel rügte vor allem die geplante Ausweitung der Videoüberwachung, die künftig bei jeder drohenden Straftat möglich sei – nicht mehr nur begrenzt auf bestimmte Orte, an denen höhere Kriminalität wahrscheinlich ist. Alle Möglichkeiten zur Stärkung von Polizeibefugnissen sollten offenbar „auf Biegen und Brechen ausgeschöpft werden“, sagte Thiel. Deutlicher Widerspruch kam von Landespolizeipräsident Axel Brockmann: In Niedersachsen gebe es „eine anhaltend hohe abstrakte Gefährdung durch islamistischen Terrorismus“. Auch in anderen Bereichen der Kriminalität werde die Kommunikation zunehmend auf Computer und das Internet verlagert – ohne dass die Polizei dagegen bisher effektiv vorgehen könne. Das gelte etwa auch für den Handel mit Kinderpornographie. Auch Zugriffe aus der Ferne auf Computer seien bisher rechtlich nur schwer möglich. Nach Angaben von LKA-Präsident Friedo de Vries gibt es gegenwärtig 75 Gefährder, die sich in Niedersachsen aufhalten.   Lesen Sie auch: Warum die Onlineüberwachung für die Polizeiarbeit wichtig werden kann Einig wie selten: Pistorius und Schünemann werben kraftvoll für ein neues Polizeigesetz  
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #136.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail