Auf der Digital-Konferenz wird der Bildungsföderalismus in Frage gestellt
Von Martin Brüning
Eigentlich möchte sie der Politik nur etwas ins Pflichtenheft schreiben. Aber die Professorin Ira Diethelm, Informatikerin an der Universität Oldenburg, tritt mit ihrer Rede im Saal 2 des Convention Centers auf dem hannoverschen Messegelände mehr los. Der Beginn des zweiten Tages der Digital-Konferenz „Techtide“, initiiert durch das niedersächsische Wirtschaftsministerium, wird zu einer Generalabrechnung mit der deutschen Bildungspolitik.
Es gehe um digitale Souveränität, die für die breite Masse erforderlich sei, erklärt Diethelm. „Dabei geht es um die Souveränität eines Landes gegenüber anderen Staaten, aber auch um die des einzelnen Bürgers und nicht nur um einzelne Fachkräfte und ein paar IT-Experten, die etwas davon verstehen.“ Mit der digitalen Souveränität ist es allerdings nicht weit her, schon gar nicht bei digital überforderten Lehrern. Die deutschen Lehrkräfte seien „Weltmeister darin, beim Einsatz digitaler Medien Bedenken zu haben“, meint Diethelm und fordert: „Wir brauchen an Schulen und Hochschulen ein breites Verständnis der Digitalisierung.“
Auch die Kinder sind keine ‚digital natives‘, nur weil sie wissen, wie ein Handy funktioniert.
Die Realität sieht anders aus. „Wir Lehrer haben keine digitalen Kompetenzen, auch nicht im Unterricht. Und auch die Kinder sind keine ‚digital natives‘, nur weil sie wissen, wie ein Handy funktioniert“, sagt Silke Müller, Leiterin der Waldschule Hatten. „Alles, was wir machen, ist autodidaktisch. Wir haben keinerlei Kompetenzen, mit dieser digitalen Welt umzugehen.“
Das stellt auch Diethelm fest. Nach wie vor gebe es keine verpflichtenden Grundlagen in den Lehramtsstudiengängen, es gebe zu wenig Medienpädagogen mit Digitalisierungskenntnissen. Und nach wie vor gebe es kein Pflichtfach Informatik in der Schule, keine Noten und kein Feedback über digitale Kompetenz. Und wenn es um Informatik bei Schülern geht, liege der Fokus immer noch auf den Jungen. „Mädchen bekommen immer noch Puppenhäuser und Pferdebücher, Jungen bekommen Computer. In den Schulen wählen Mädchen nicht Informatik an, weil da nur ‚Jungs-Themen‘ behandelt werden.“ Eine der Folgen: Nur fünf Prozent der Abiturienten kämen an der Universität in die Informatikkurse.
Wir werden uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob im Zeitalter der Digitalisierung das derzeitige Wettbewerbsmodell in der Kultuspolitik so aufrechterhalten werden kann.
Diethelm zitiert Thomas Edison: „Erfolg hat nur derjenige, der etwas tut, während er auf den Erfolg wartet.“ Aber was ist zu tun? „Holen Sie Expertise zusammen, lassen Sie Strategien entwickeln“, fordert Silke Müller von der Politik. Es gebe diese Strategien bereits, man müsse sie nur finden und bündeln. Müller wünscht sich offene Türen von der Politik, statt auf die Kultusministerkonferenz zu warten, die irgendwann einmal Strategien umsetzt.
Ins selbe Horn stößt Wirtschaftsminister Bernd Althusmann, in vollem Bewusstsein, dass er sich politisch auf ein heikles Feld begibt. „Wir werden uns ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob im Zeitalter der Digitalisierung das derzeitige Wettbewerbsmodell in der Kultuspolitik so aufrechterhalten werden kann“, sagt er und spricht dabei selbst von einer gewagten These. Dafür gibt es aber zum ersten Mal Applaus von den gut 400 Zuschauern im Saal.
„Es hat keinen Sinn, dass wir zwischen den Ländern imaginäre Hürden haben. Das digitale Zeitalter wird den Föderalismus in Deutschland verändern und auch verändern müssen“, wagt sich Althusmann weiter vor. Föderale Hürden in der Bildungspolitik müssten mittelfristig überwunden werden. Applaus bekommt Althusmann dafür auch von Silke Müller. „Ich gebe ihm recht, habe aber immer Angst, dass ich dann in den Kerker unter dem Kultusministerium komme“, scherzt Müller. Der Kultusminister hätte es wohl dennoch nur ungern gehört, wenn er denn da gewesen wäre.
Lesen Sie auch:
Brauchen wir eine Revolution in den Schulen, damit der Unterricht künftig noch gelingen kann?
Die geringe IT-Kompetenz an den Schulen, die kleine Zahl an Informatikern, die in der Folge die Hochschulen am Ende mit einem Studienabschluss verlassen, das alles hat auch Auswirkungen auf die Unternehmen, denen es an Fachkräften fehlt. Diese Lücke werde sich auch so schnell nicht lösen lassen, da müsse man sich nichts vormachen, meint Frank Maier, Innovationsvorstand des Automatisierungsunternehmens Lenze aus Aerzen im Kreis Hameln-Pyrmont.
Gehen sie um Gottes willen nicht davon aus, dass Sie ihren Fachkräftebedarf in der Software komplett decken können. Besetzen sie die kritischen Bereiche und holen Sie sich für den Rest Unterstützung von außen.
Die Lösung sei zum einen ein Quantensprung bei der Produktivität er Software, zum anderen müsse man besser netzwerken. „Wir müssen anders zusammenarbeiten als früher“, sagt Maier. „Gehen sie um Gottes willen nicht davon aus, dass Sie ihren Fachkräftebedarf in der Software komplett decken können. Besetzen sie die kritischen Bereiche und holen Sie sich für den Rest Unterstützung von außen“, empfiehlt er.
Das Zeitalter der „Co-Creation“ nennt das Ferry Nesenhoener, Mitgründer des Unternehmens Innocado, eine interne Vernetzungsplattform für Mitarbeiter von Unternehmen. Nesenhoener ist davon überzeugt, dass sich intern Abteilungsgrenzen und extern Unternehmensgrenzen auflösen werden. Als Beispiel nennt er das Format „Pitch Black“ des Verbands Niedersachsenmetall, der damit auch auf der Techtide vertreten ist. Dabei suchen sich Unternehmen Unterstützung von außen, um ein Problem zu lösen.
Hilfe von außen – vielleicht könnte das auch ein Erfolgsmodell in der Bildungspolitik sein, um die Herausforderungen zu meistern, die es nicht erst seit gestern gibt. Silke Müller berichtet, dass sie ihrem Mann einmal eine Postkarte mit der Aufschrift „Weihnachten kommt immer so plötzlich“ geschenkt habe. Mit der Digitalisierung verhält es sich genauso. Jetzt ist sie allerdings schon da.