In seinen bisher 75 Jahren ist das Grundgesetz ziemlich gut gealtert. Die meisten Artikel sind immer noch auf der Höhe der Zeit, doch ausgerechnet ein Nachzügler fällt hier unangenehm auf: Artikel 12a, der erst 1968 den Sprung in die Verfassung schaffte, steht auf wackeligen Füßen. Die sogenannte Dienstverpflichtung, die den Wehrdienst in Deutschland regelt, harmoniert in ihrer bisherigen Form überhaupt nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz in Artikel 3. Hier muss der Bundestag dringend nachbessern.

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Die Wehrpflicht hat ihre Wurzeln in der römischen Republik und im germanischen Stammeswesen, bevor sie später durch die Französische Revolution sowie die Befreiungskriege gegen Napoleon in Europa dauerhaft Fuß fasste. Ebenso alt ist der Streit um die Frage der Wehrgerechtigkeit. Warum werden die einen für den Wehrdienst fürs Vaterland herangezogen, während andere durchs Raster fallen? Lange vor dem Aussetzen der Wehrpflicht 2011 durch den damaligen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wurde darüber auch in der Bundesrepublik heiß diskutiert, ob und, wenn ja, wie sich das Prinzip der Wehrgerechtigkeit aus Artikel 3 des Grundgesetzes ableitet. Denn nach Ende des Kalten Krieges standen einer radikal verkleinerten Bundeswehr viel mehr Wehrpflichtige zur Verfügung als sie tatsächlich benötigte. Die Folge dessen: Die Hürden zur Ausmusterung wurden auf ein lächerlich niedriges Niveau gesenkt und die Einberufungspraxis zur Willkür. Alle Klagen dagegen scheiterten zwar spätestens am Bundesverfassungsgericht, doch nachvollziehbar waren die dazugehörigen Begründungen der Verfassungshüter bestenfalls für Jura-Experten. Das allgemeine Murren über die Einberufungspraxis endete jedoch erst mit der Außerkraftsetzung.

Auch heute könnte die mittlerweile auf 182.000 Soldaten und Beschäftigte geschrumpfte Bundeswehr nur einen Bruchteil eines Jahrgangs ausbilden. Wer also über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht nachdenkt, muss gleichzeitig das nochmal verschärfte Problem der Wehrgerechtigkeit lösen. Eine allgemeine Dienstpflicht wäre darauf eine Antwort. Aber wie soll die aussehen? Junge Erwachsene für sechs Monate zum Technischen Hilfswerk, ins Krankenhaus oder in einen Kindergarten zu schicken, schafft mehr Probleme als es löst. Anstatt die Mitarbeiter dort zu entlasten, müssen sie „Babysitter“ für unqualifizierte Berufseinsteiger mit äußerst fragwürdiger Motivation spielen. Und eine Dienstpflicht von 15 Monaten würde zwar die Qualität des Dienstes erheblich erhöhen, wäre aber eine kuriose Antwort auf den Fachkräftemangel. Zumal auch die Frage im Raum steht, ob auch alle Frauen eines Jahrgangs von dieser Dienstpflicht betroffen wären. „Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden“, heißt es im Grundgesetz. Viele Verfassungsrechtler sehen das allerdings kritisch und halten die Differenzierung zwischen Mann und Frau an dieser Stelle für unzulässig. Die Verteidiger des Zwangsdienst-Verbots für Frauen verweisen dagegen gerne auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2006, das die Ungleichbehandlung wie folgt begründete: Da „Frauen typischerweise nach wie vor im familiären Bereich größeren Belastungen ausgesetzt sind als Männer“, sei ihre völlige Herausnahme aus jeglichen Dienstverpflichtungen in Friedenszeiten gerechtfertigt. Ob dieses Argument auch im Jahr 2024 noch überzeugen könnte, darf bezweifelt werden.

Die Stärkung der Bundeswehr als Freiwilligenarmee sollte oberste Priorität haben.

Wenn es nach Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) geht, wird sich Deutschland am schwedischen Modell orientieren. Der jüngste Nato-Neuzugang hatte bereits 2017 auf die russische Annexion der Krim reagiert und eine freiwillige Wehrpflicht für beide Geschlechter eingeführt. Die Skandinavier haben mit dem Modell gute Erfahrungen gemacht, aber was geschieht, wenn sich in Deutschland nicht genug Freiwillige melden? Dann müsste es zu Zwangseinberufungen kommen, die wiederum mit der Wehrgerechtigkeit kaum vereinbar wären. Um eine Änderung von Artikel 12a führt daher kaum ein Weg vorbei. Die Einführung einer Wehrpflicht auch für Frauen würde dabei an erster Stelle stehen. Besser wäre es aber noch, wenn man gleich eine neue Form der Wehrpflicht im Grundgesetz festschreiben würde.



Die Umstellung von Zwangsrekrutierung auf Freiwilligkeit wäre dabei auch mit Blick auf die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr der richtige Ansatz. „Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage“, stellte Bundespräsident Roman Herzog in einer Rede zum 40-jährigen Bundeswehrjubiläum 1996 sehr treffend fest. Heute ist Russland zwar wieder eine Bedrohung für den Weltfrieden und wird das auf lange Sicht auch bleiben. Dass russische Panzer auf die deutsche Grenze zurollen werden, ist jedoch weiterhin äußerst unwahrscheinlich. Wenn es zum Kampf kommt, dann an der Nato-Ostgrenze und dort werden deutsche Wehrdienstleistende und Reservisten sicher nicht zum Einsatz kommen. Die Stärkung der Bundeswehr als Freiwilligenarmee sollte daher oberste Priorität haben.