
Ein paar Klicks, eine Überweisung per Paypal und fertig ist die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – ganz ohne Arztbesuch. Internet-Plattformen wie „Scheindoc“, „AU Schein“ oder „Medizineu“ verkaufen Krankschreibungen als PDF-Download. Was als moderne Dienstleistung gegen überfüllte Wartezimmer daherkommt, entpuppt sich auf den zweiten Blick als potenzielle Beihilfe zum Arbeitszeitbetrug durch falsche Krankmeldung. Mithilfe juristischer Tricks halten sich die Anbieter schadlos, während ihren Kunden im schlimmsten Fall eine fristlose Kündigung oder eine Anzeige wegen Betrugs droht.
Rechtsanwältin Katja Hüser, stellvertretende Leiterin des Rechtsbereichs bei Niedersachsen-Metall, beobachtet dieses Phänomen seit Jahren: „Wir haben zwischendurch gedacht, dass sich das Problem erledigt hat.“ Doch nach dem Boom während der Corona-Pandemie könnte das Geschäft mit den falschen Online-Krankschreibungen einen zweiten Frühling erleben. Die Plattform „AU Schein“ bietet nach eigenen Angaben jetzt auch Krankschreibungen per Videochat an – angeblich durch Kassenärzte. Wer sich zu gewissen Zeiten (etwa montags bis freitags von 20 bis 21 Uhr) anmeldet, bekommt demnach für 19 Euro eine Krankschreibung für bis zu drei Tage.

„AU Schein“ gehört zum Firmennetzwerk von Can Ansay, der bereits vor der Corona-Pandemie mit seiner Plattform „DrAnsay.com“ das Geschäft mit Online-Krankschreibungen als lukratives Startup für sich entdeckt hat. Anders als man vielleicht vermuten könnte, ist Dr. Ansay kein Arzt, sondern promovierter Jurist – und offenbar ein ziemlich gewiefter. Seine Plattformen werben offensiv mit medialer Bekanntheit, unter anderem durch Berichte von ZDF, Wirtschaftswoche, Spiegel oder Vice. Dass dort regelmäßig Zweifel an der Seriosität des Angebots geäußert werden, scheint die Marketingabteilung des in Malta ansässigen Unternehmens nicht zu stören. Behördenärger kennt der Hamburger Millionär offenbar nicht. Statt das Geschäftsmodell einzuschränken, hat Ansay mittlerweile auch einen Cannabis-Online-Shop eingerichtet – und verkauft neben Krankschreibungen und Rezepten auch gleich die dazugehörigen Produkte. Laut Medienberichten läuft das ähnlich dubios wie bei den Krankschreibungen ab. Im Gegensatz zu den Anbietern anderer Plattformen, die weder Geschäftsführer noch Geschäftssitz ausweisen, ist Ansay kein Phantom. Neben seinen unternehmerischen Aktivitäten ist er auch politisch aktiv geworden und hat mit der „Dr. Ansay Partei“ eine politische Gruppierung gegründet, die laut Eigenwerbung für weniger öffentliche Geldverschwendung sowie für mehr Recht und Ordnung eintritt. Auf eine Rundblick-Anfrage reagierte sein Unternehmen bislang nicht.

Solange es sich bei fragwürdigen Attesten um PDF-Dateien handelt, die direkt beim Arbeitgeber eingereicht werden, ist eine gewisse Kontrolle möglich: Wer ständig neue Arztpraxen aufsucht oder nur Erstbescheinigungen vorlegt, macht sich verdächtig. Erstbescheinigungen sind besonders auffällig, da sie nur am Beginn einer Erkrankung ausgestellt werden – wer ständig eine neue Erkrankung angibt, ohne Folgebescheinigungen vorzulegen, gibt Anlass zum Misstrauen. „Im Zweifel fliegt das relativ schnell auf“, sagt Hüser. Doch mit der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) geht diese Transparenz verloren. Der Arbeitgeber sieht nur noch Beginn und Ende der Krankschreibung – nicht aber, welcher Arzt sie ausgestellt hat und wo dieser ansässig ist. Sollte es den Plattformen tatsächlich gelingen, ihre Videochat-Angebote mit Vertragsärzten nahtlos ins eAU-System zu integrieren, könnten selbst fragwürdige Atteste dort abgewickelt werden. Die letzte Kontrollinstanz der Unternehmer würde dann entfallen. „Dann kann es vorkommen, dass der Arbeitgeber nicht mitbekommt, dass ein Arbeitnehmer sich über einen dieser Anbieter hat krankschreiben lassen“, warnt Hüser.
Auch dem Verband der Ersatzkassen in Niedersachsen (VdEK) sind die Online-Plattformen ein Dorn im Auge. Für VdEK-Sprecher Simon Kopelke sind rein fragebogenbasierte Angebote ohne ärztliche Diagnose, bei denen man für 4,99 Euro zusätzlich auch länger als eine Woche krankgeschrieben wird, schlicht „unzulässig“. „Es wäre wünschenswert, dass solchen Anbietern das Handwerk gelegt wird“, sagt Kopelke. Gleichzeitig macht der VdEK-Vertreter deutlich, dass das eAU-System selbst nicht das Problem sei. „Die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist sicher. Sie kann ausschließlich von niedergelassenen Vertragsärzten ausgestellt werden.“ Dass es auch unter den Kassenärzten einzelne schwarze Schafe gibt, kann er zwar nicht ausschließen. Grundsätzlich hält er das Modell der persönlichen Videosprechstunde jedoch für weitgehend betrugssicher. Dass an die Unternehmen nur noch die wichtigsten Angaben weitergeleitet werden, begründet Kopelke mit dem Datenschutz und der Datensparsamkeit. „Wenn ein Arbeitgeber berechtigte Zweifel hat, kann er sich bei der Krankenkasse melden.“ Diese könne dann den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) einschalten, der sich den Vorfall genauer anschaut.

Die rechtliche Grundlage dafür bietet Paragraph 275 Absatz 1a im fünften Sozialgesetzbuch. Begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit liegen demnach vor, wenn „Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind“. Verdächtig ist es demnach auch, wenn die Krankschreibung regelmäßig auf den Beginn oder Ende einer Arbeitswoche fällt. Das Gesetz erlaubt in solchen Fällen eine „unverzügliche“ Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit durch den MDK. Laut Hüser vergehen bis zur Kontrolle aber in der Regel mindestens mehrere Tage, sodass eine falsche Krankschreibung kaum noch nachgewiesen werden kann. „Das ist kein ganz scharfes Schwert. Die Möglichkeiten der Überprüfung sind eher eingeschränkt“, stellt die Rechtsanwältin fest. Sie rät den Firmen trotzdem dazu, diesen Schritt zu gehen. Das Einschalten der Kontrollbehörden habe immerhin einen psychologischen Effekt, der vermeintlichen Betrügern klar macht, dass sie sich auf einem schmalen Grat bewegen.
Wenn ihnen der Arbeitnehmer einen offenbar gefälschten „gelben Schein“ vorlegt, haben Geschäftsführer und Personalchefs etwas mehr Handhabe. „Bei berechtigten Zweifeln kann der Arbeitgeber ein Zurückbehaltungsrecht geltend machen und die Lohnfortzahlung verweigern“, erklärt Hüser. Leichtfertig sollten Unternehmen das zwar nicht machen, weil ihnen übereifriges Vorgehen vor Gericht um die Ohren fliegen könnte. Wenn es aber den Arzt, der die Krankschreibung unterschrieben hat, in Wirklichkeit gar nicht gibt, sei dieser Schritt durchaus angebracht. Die Juristin stellt in der Praxis zwar sinkende Hürden für ungerechtfertigte Krankschreibungen fest. „Insgesamt ist die Rechtslage für die Arbeitgeber aber etwas besser geworden“, sagt Hüser. Als Beispiel dafür nennt sie ein Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts zu einem häufigen Streitfall zwischen Arbeitgebern und bereits gekündigten Mitarbeitern: In dem Verfahren hatte eine Arbeitnehmerin genau für den Zeitraum zwischen Ausspruch ihrer Kündigung und dem Ablauf ihrer Kündigungsfrist eine Krankschreibung eingereicht. Das Bundesarbeitsgericht entschied, dass in einem solchen Fall der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sein kann, wenn keine weiteren Belege für eine Erkrankung vorliegen. Damit wurde die Position der Arbeitgeber gestärkt: Sie dürfen in solchen Konstellationen die Entgeltfortzahlung verweigern – sofern begründete Zweifel bestehen.
Das niedersächsische Sozialministerium sieht die Entwicklung ebenfalls mit Sorge. „Die vielen positiven Chancen und Möglichkeiten der Digitalisierung lassen leider auch immer Spielräume für die missbräuchliche Nutzung", sagt Ministeriumssprecher Sebastian Schumacher und berichtet: „Uns ist bekannt, dass die beschriebene Problematik an Aktualität und Brisanz gewinnt.“ Die organisierte Ärzteschaft warne bereits vor „derartigen unzulässigen Machenschaften“. Nach den Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses dürfe eine Krankschreibung nur nach persönlichem Kontakt ausgestellt werden – entweder direkt in der Praxis, per Videosprechstunde oder nach telefonischer Anamnese. „Die Ausstellung nur aufgrund eines online ausgefüllten Fragebogens ist nicht zulässig“, stellt Schumacher klar. Man wolle das Thema auch in Gesprächen mit Ärzten und Sozialpartnern aufgreifen, so der Ministeriumssprecher weiter: "Wir werden die Tragweite des Problems und mögliche Handlungsoptionen erörtern, um die Sachlage besser zu verstehen und gegebenenfalls gegenzusteuern.“