Der Ortsverbandssprecher der Grünen in Neustadt am Rübenberge, Cord Dreyer, kam etwas konsterniert zum Landesparteitag nach Oldenburg. Seine Freunde und er hatten in der Nacht zuvor in den Dörfern die ersten Plakate für die Europawahl am 9. Juni aufgehängt. In Büren aber, einem kleinen Ortsteil, waren am nächsten Morgen acht von den neun Werbeschildern verschwunden. Zu all dem Widerspruch, den die Grünen in Neustadt seit Monaten an ihren Info-Ständen hören, nun auch noch das, ein Diebstahl durch den politischen Gegner. „Das ist eine neue Erfahrung für mich“, sagt Dreyer leicht zerknirscht.

Die Szene hat Symbolkraft. Denn die Grünen, seit Jahrzehnten eine vornehmlich mit großer Sympathie begleitete Partei, spüren derzeit bundesweit immer mehr Anfeindungen. Versammlungen werden gestört, Politiker belagert oder angegriffen, Reden werden mit Störmanövern verhindert. Was macht das mit den Grünen-Funktionären, für die eine derart radikale Gegenwehr etwas völlig Neues ist? Mehr als 200 Delegierte der niedersächsischen Grünen sind zum Parteitag nach Oldenburg gekommen. Eigentlich ist die Partei im Aufwärtstrend, immer mehr Menschen schließen sich ihr an, der Landesverband zählt mittlerweile 12.900 Mitglieder. Dass die Grünen nun das Ringen um den richtigen Weg in der Landespolitik in den Mittelpunkt ihrer Tagung gestellt hätten, lässt sich indes nicht sagen.
Das offizielle Programm war vielmehr darauf ausgerichtet, sich gegenseitig Mut zuzusprechen und sich zu sagen, wie richtig man doch mit den eigenen Grundsätzen und Zielen liege. Terry Reintke aus Nordrhein-Westfalen, deutsche Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, sagt zum Ende ihrer Rede einen bemerkenswerten Satz: „Ich kann mir gut vorstellen: Auch bei Euch wird nicht immer mit einem positiven Gefühl an die nächsten Wochen des Europawahlkampfes gedacht. Aber wir müssen mit Mut gegen die Hoffnungslosigkeit angehen.“

So wird dieser Landesparteitag zu einem großen Kümmerer- und Mutmacher-Kongress für die geschundene Seele der Partei. Zu Beginn wird wieder ein „Awareness-Team“ vorgestellt – eine Task-Force von Mitarbeitern in gelben Warnwesten, die ständig ansprechbar sind, wenn sich Delegierte während der Tagung oder beim „bunten Abend“ unwohl fühlen oder bedrängt werden. Beim Catering gibt es den „Solidar-Teller“, ein vergünstigtes Essen für alle, die erklären, sich den vollen Preis nicht leisten können und bedürftig zu sein. „Kontrolliert wird die Angabe nicht“, verkündet die Tagungsleitung. Zu Beginn wird auf neue Sicherheitsbestimmungen hingewiesen. Da am zweiten Tag die Bundessprecherin Ricarda Lang erscheint, die in jüngster Zeit mehrfach bedroht wurde, werden die Auflagen erhöht. Delegierte dürfen dann nicht mehr mit Koffern in den Saal kommen – und auch sonst herrschen strenge Hinweise. Wieder wird das Gefühl von Bedrohung vermittelt.
Die Parteitagsregie entscheidet sich, die möglichen Kontroversen zu Sachfragen – AfD-Verbotsantrag, Widerstand gegen den Schacht Konrad, Verklappung von CO2 in der Tiefe der Nordsee – an den Rand zu drängen. In den Mittelpunkt werden Themen gerückt, die für überwiegende Einigkeit in der Partei bekannt sind. Das sind der Auftakt zur Europawahl, die Zuwanderungspolitik und der Kampf gegen den Rechtsextremismus. Zu all diesen Themen kommen dann die Rufe, man möge bitte durchhalten und konsequent seinen Weg gehen. Eine wichtige Rede hält Vize-Ministerpräsidentin Julia Hamburg. „In der rot-grünen Landesregierung sorgen wir dafür, dass Niedersachsen nicht mehr nur verwaltet, sondern auch gestaltet wird“, sagt die Kultusministerin.

Umweltminister Christian Meyer habe „den Klimaschutz-Turbo gezündet“, Gerald Heere sei ein „Ermöglichungs- und Finanzminister“ und Agrarministerin Miriam Staudte finde im Umgang mit den Landwirten die richtigen Worte. Hamburg kommt auch auf den Gegenwind und den Shitstorm zu sprechen, der den Grünen immer häufiger begegne. „Wir können selbstbewusst erhobenen Hauptes aufstehen und sagen: Grün wirkt“, ruft die Ministerin in den Saal. Die Mitglieder dürften sich „nicht ins Bockshorn jagen lassen“, meint Hamburg und ergänzt: „Wir lassen uns den Mund nicht verbieten und haben zurecht einen Platz in den Regierungen dieses Landes.“
Nach der Hamburg-Rede erheben sich die Delegierten von den Plätzen und applaudieren kräftig – eine Szene, die sich bei diesem Parteitag gleich mehrfach wiederholt. Nach der Ansprache der Grünen-Europakandidatin Terry Reintke ist das so, auch nach dem Grußwort von Gebke van Gaal, die aus den Niederlanden nach Oldenburg gekommen ist. Ihr Rat aus Den Haag lautet, dass sich „die linken Kräfte nicht auseinanderdividieren lassen dürfen“. Ihr Kernsatz lautet: „Wir sollten nicht die Unterschiede vergrößern, sondern die Gemeinsamkeiten hervorheben.“ Das hören vor allem jene gern bei diesem Parteitag, die der Partei lieber ein stärkeres sozialistisches Profil verpassen wollen – so wie der Delegierte Felix Hötker, der beim Thema „soziales Europa“ lautstark für die Einführung der Vermögensteuer wirbt. Auch er wird mit starkem Beifall belohnt.

Dieses Familientreffen der Grünen, bei dem es so viel um eine „innere Aufrichtung“ geht, wird noch um eine Ehrung ergänzt. Der Altvordere der niedersächsischen Grünen, der ehemalige Minister, Landes- und Bundespolitiker Jürgen Trittin wird auf dem Landesparteitag feierlich verabschiedet. Die Laudatio wird zweigeteilt – die eine Hälfte spricht Thea Dückert, die einstige Landtagsfraktionsvorsitzende, die andere Anja Piel, eine ihrer Nachfolgerinnen, die jetzt in der DGB-Führung arbeitet. Trittin wird dargestellt als der aufrechte Vertreter der Linken in der Partei, der mit großem strategischem Geschick die Grünen in die Regierungsbeteiligung geführt und sie dort gehalten habe – trotz Vorbehalten, die gerade beim linken Flügel der Partei herrschten und teilweise immer noch herrschen.
In seiner Rede lässt Trittin den Blick noch einmal über die vergangenen Jahrzehnte schweifen – mit der Botschaft, wie wichtig doch die Grünen bei den Weichenstellungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen seien. Es ist dann Trittin, der die Zurückhaltung der anderen Redner bei der Beurteilung der Koalitionsfrage durchbricht. Der bekennende Parteilinke aus Göttingen betont, für ihn gebe es „keine Äquidistanz“ zu SPD oder Union. „Ein Stephan Weil ist mir menschlich viel näher als ein Markus Söder“, betont er und fügt hinzu: „Mit Boris Pistorius komme ich klar, mit Friedrich Merz fremdele ich – ebenso wie mit Christian Lindner und seiner Fetischisierung der Schuldenbremse.“ Da ertönt der Beifall auch, und zwar fast stürmisch.

Also alles klar für eine Zukunft der Grünen an der Seite der SPD? Trittins bekennende Nähe gegenüber den Sozialdemokraten merkt man gegenwärtig in einigen niedersächsischen Kommunen nicht. Vom Zerwürfnis zwischen SPD und Grünen in Hannover ist während des Parteitags offiziell nicht die Rede. Es kommt aber dem gastgebenden Oldenburger Kreisverband zu, sich von den Sozialdemokraten abzugrenzen. Dass Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD) einen Stadion-Neubau durchsetzen wolle, der 50 Millionen Euro koste und vollständig von der Stadt finanziert werden soll, sei skandalös. „Ein solches Geschenk hat noch keine Stadt ihrem Fußballverein gegeben“, frotzelt der Grünen-Ratsherr Maik Niederstein. Auch dafür erklingt wieder starker Beifall.