15. Jan. 2024 · 
Kultur

Analyse: Die Medien werden schwächer – das ist eine Gefahr für unsere Demokratie

Seit ziemlich genau 30 Jahren schon wohnt der Autor dieser Zeilen einem Ritual bei, das in Niedersachsen zum festen Bestandteil der Landespolitik gehört. Jeden Mittwoch und jeden Freitag um 10.30 Uhr trifft sich im Landtag die „Landespressekonferenz“, kurz „LPK“ genannt. Die Sprecher des Ministerpräsidenten und der Ministerien stehen den landespolitischen Journalisten Rede und Antwort, den Vorsitz führt jeweils ein Journalist. Wichtige Mitteilungen sollen auf diesem Weg vermittelt werden, und in besonderen Fällen kommen auch der Ministerpräsident oder die Minister persönlich vorbei. Daneben gibt es noch bei Bedarf eine Pressekonferenz nach der Kabinettssitzung am Dienstagnachmittag. Das alles hat sich in der Form kaum gewandelt. Im Inhalt indes sind die Veränderungen gewaltig.

Seit über 70 Jahren eine Institution in Niedersachsen: Die Landespressekonferenz im niedersächsischen Landtag in Hannover. | Foto: Focke Strangmann

Eine gewisse Konfrontation ist im System angelegt: Auf der einen Seite die Vertreter der Regierung, die ihrer Informationspflicht nachkommen, auf der anderen die der Medien, die politische Entscheidungen erfragen, hinterfragen, erforschen oder in bestimmten Fällen nachhaken. Zuweilen wird die Stimmung gereizt, wenn Journalisten die Antworten als ausweichend empfinden. Meistens aber herrscht geschäftsmäßige Kollegialität. Vor 30 Jahren noch schienen die beiden Seiten gleichstark zu sein. Mindestens zehn Journalisten waren regelmäßig bei den Treffen der LPK vertreten, in ähnlicher Anzahl die Gesandten der Ministerien.

Und heute? Es kommt vor, dass fünf Journalisten kommen, manchmal sind es auch nur drei. Zum Ritual zählte früher lange Zeit, nach dem Treffen noch auf einen Kaffee in der Markthalle zusammenzustehen. Das Ritual gibt es heute noch, aber oft sind die Pressesprecher mehr oder weniger unter sich. Die Journalisten, die noch zur LPK kommen, stehen meistens unter Zeitdruck. Einige Kollegen berichten zudem, dass ihre Vorgesetzten in den Redaktionen schon signalisiert hätten, an landespolitischem Stoff eigentlich gar kein Interesse zu haben. Wieder andere ersparen sich den Besuch der Routine-Pressekonferenz, da ihre Redaktion lieber bunte Reportagen beispielsweise über Großunternehmer bevorzugt, die sich in der Bücherbranche hervortun. Und dann sind da noch Situationen, in denen die LPK eröffnet wird und nach zehn Minuten schon wieder schließt – weil weder die Pressesprecher etwas Interessantes mitgeteilt, noch die Journalisten intensiv gefragt haben.

Seltener Anblick: Die Landespressekonferenz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das kommt nur bei besonderen Anlässen wie etwa der Kabinettsrochade mit Daniela Behrens und Andreas Philippi vor. | Foto: Link

Was ist bloß los mit der Medienbranche? Mehrere Entwicklungen vereinigen sich zu einer ungesunden und für die demokratische Ordnung überaus nachteiligen Mischung. Erstens bauen gerade die Regionalzeitungen ihre Redaktionen gnadenlos ab oder legen sie zusammen. Wo früher in den Landes- oder Wirtschaftsredaktionen noch fünf Kollegen tätig waren, muss heute ein einziger die Dienste leisten. Die meisten von ihnen haben auch ein anderes Aufgabenspektrum als früher. Gab es vor Jahrzehnten häufig noch Zeit, für die eine oder andere Geschichte ein paar Tage länger zu recherchieren, so müssen die Journalisten heute liefern. Schnelligkeit und Quantität werden gefordert. Ist von Qualität die Rede, so gelten heute oft andere Maßstäbe. Nicht mehr die von reichlich Hintergrundgesprächen angereicherte Geschichte gilt als erstrebenswert, die von viel Insider-Wissen und guten Kontakten in die politische Szene zeugt, sondern die andere, die bestimmte Emotionen anspricht.

Es sind Reizwörter und Reizthemen, bei denen jene hängen bleiben, die im Internet surfen oder sich in sozialen Medien auch zu bestimmten Interessengruppen vereint haben. Wenn ein Wolf Schafe angegriffen hat, wenn ein Politiker seinen Führerschein wegen Raserei verliert oder wenn für ein anstößig gestaltetes Kirchenfenster gespendet werden soll, dann werden das rasch die „Renner“ im Internet. Viele Redaktionsleitungen lassen sich davon lenken und meinen, für solche Aufreger-Themen viel Platz einzuräumen. Die komplizierteren Zusammenhänge, die vielleicht sogar skandalös sein mögen, aber nicht in drei Sätzen zu erzählen sind, fallen dann hinten runter. Die Konsequenz lautet allzu oft: Wir schicken die Redakteure nicht mehr zu landespolitischen Terminen, denn da ist es doch sowieso meistens langweilig. Manchmal haben Journalisten die Hoffnung, mit der Aufmerksamkeit für Reizworte auf komplexere Sachverhalte zu lenken. Die Erregung über den Wolf etwa führt so in die Verästelungen des Geflechts aus EU-Recht, Bundesrecht und Landes-Regelungen.

Wir haben also weniger Journalisten, die sich in politische Themen einarbeiten. Zugleich haben diese wenigen auch weniger Zeit als bisher, sich wirklich in komplexe Dinge zu vertiefen. Dann haben wir Redaktionen, die sich gegen den Auflagenverlust ihrer Zeitungen stemmen und meinen, vor allem über vermeintlich populäre, simpel verständliche Themen mehr Aufmerksamkeit zu erregen. Die Sucht nach der emotional aufgeladenen Schlagzeile bestimmt den Takt, für die differenzierten Hintergründe bleibt kein Raum mehr. Was sich dann in der Folge ständig selbst verstärkt, ist der Wandel der Medienwelt: Eine große Zeitung aus dem Westen verzichtet seit Monaten darauf, überhaupt noch aus dem Landtag zu berichten. In etlichen Städten gibt es kaum noch Lokal-Berichterstatter.

Der Pflichttermin von früher, in den Rats- und wichtigen Ausschusssitzungen dabei zu sein, fällt weg. Im Ergebnis bekommen weder die Journalisten noch ihre Leser mit, was in der Welt der Politik vor sich geht. Wenn sich eine Intrige anbahnt, ein auf fragwürdigen Absprachen beruhender Beschluss gefasst wird, wenn leise Revolten in Parteien vorbereitet werden, ist die Presse nicht mehr dabei. All diese Dinge, die eigentlich unsauber sind und aufgedeckt werden müssten, vollziehen sich trotzdem, vielleicht noch stärker als zuvor. Im schlimmsten Fall verlieren die Akteure alle Hemmungen, weil sie ja inzwischen so gut wie sicher sein können, dass diese Vorgänge niemand mehr aufdecken wird.

Ein Kameramann filmt Minsterpräsident Stephan Weil auf dessen Sommertour bei einer Fahrt im Stader Seehafen. Ausdrucksvolle Bilder sind in der politischen Berichterstattung weitaus gefragter als tiefgründige Inhalte. | Foto: Link

Tatsächlich ist der Kontrollverlust die schlimmste Konsequenz dieses merkwürdigen Wandels der Öffentlichkeit. Die politische Berichterstattung hat im klassischen Sinn eine Doppelaufgabe: Sie spürt Fehlentwicklungen auf, macht sie öffentlich und sorgt damit als Korrektiv dafür, dass sich die Mächtigen an die Regeln halten. Das ist eine distanzierte Rolle, nämlich die eines Wächters. Zugleich aber verlangt diese Arbeit auch, dass der Journalismus das gängige politische Regelwerk erst einmal begreift, anschaulich macht und den Lesern vermittelt. Dazu braucht er gute Kontakte zu den Politikern, sogar journalistische Empathie der besonderen Art – das Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt der Politiker.

Warum die Gewaltenteilung so wichtig ist, warum die Minister eine neutrale Rolle einnehmen müssen und keine Parteifreunde protegieren dürfen, warum bei Investitionen strikt auf korrekte Vergaberichtlinien geachtet werden muss – all das begreift man ja nur, wenn man auch die Verstöße gegen derlei Bestimmungen darstellen kann. Wo aber kein Wächter mehr da ist, der Missstände aufdeckt und anprangert, geht auch das Gefühl für die Missstände an sich verloren. Und die potenziellen Hinweisgeber aus der Politik selbst wissen dann nicht mehr, an wen sie sich mit einer Enthüllung wenden können. In vielen Staaten, auch in Europa, ist die Bedeutung des unabhängigen Journalismus viel geringer als in Deutschland, in vielen Ländern hat die Presse längst nicht den hohen Stellenwert, den sie noch hierzulande genießt. Fälle von Korruption, Begünstigung im Amt oder Bestechlichkeit werden dort auch bekannt, es sind auch oft schlimmere Fälle als hierzulande. Der Unterschied ist, dass dies dort kaum noch jemanden wirklich aufregt.

Darin aber lauert eine große Gefahr: Im niedersächsischen Landtag wird immer wieder die große Bedeutung der Demokratie beschrieben, in diesem Jahr soll es anlässlich des 75. Geburtstags des Grundgesetzes dazu eine Veranstaltungsreihe geben. Die Unterstützung der Demokratie beginnt aber mit dem Verständnis für ihre Institutionen und ihr Regelwerk – und mit der Verteidigung dieser Errungenschaften. Wo die Verstöße gegen die Regeln aber keine Empörung mehr auslösen, weil die Chance ihrer Aufdeckung minimal ist oder weil Redaktionen meinen, dass politische Berichterstattung sowieso langweilig sei, da kann kein demokratisches Bewusstsein gedeihen. Die Krise der Medien, die sich auch im Abbau der Politik-Berichterstattung ausdrückt, kann zum Sargnagel für unser parlamentarisches System werden.


Dieser Artikel erschien am 16.1.2024 in Ausgabe #7.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail