7. Dez. 2025 · 
PorträtKultur

„Alles ist rückläufig, was wir mühsam erkämpft haben“, sagt die Frauenrechtlerin Karras

In den 1990er Jahren hat sie das erste NGG auf den Weg gebracht, sich mit Gerhard Schröder angelegt und Gewalt gegen Frauen beim Namen genannt. Jetzt blickt Christa Karras zurück.

Es ist schwer zu erkennen, welcher Kopf zu welchem Körper gehört. Die Frauen haben sich in einer wüsten Rauferei ineinander verkeilt. Sie alle balgen sich auf dem historischen Kupferstich um eine einzige Hose. Im 18. Jahrhundert war das vermutlich lustig gemeint. „Mit so alten Schinken kann ich nicht viel anfangen“, sagt Christa Karras trocken. Aber die Zeiten, als Hosen als Symbol der Macht den Männern vorbehalten waren, seien noch gar nicht so lange vorbei: „Im Bundestag war es bis in die siebziger Jahre so.“ Später an diesem Vormittag im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum zieht die Grünen-Politikerin ihr Handy hervor und zeigt ein paar eigene Fotos aus der Zeit, als Frauen in Hosen noch die Gemüter erhitzten. Zum Beispiel ein Bild aus ihrer WG: Jede Mitbewohnerin trägt eine selbst gefärbte lila Latzhose. „Das musste damals sein“, sagt Christa Karras fröhlich.

Das Foto zeigt zwei Frauen auf einer Bank im Museum. Im Hintergrund die Reproduktion eines Gemäldes, auf dem zwei Frauen einen Mann köpfen.
„Ein zutiefst frauenfeindliches Thema in der Kunstgeschichte“: Christa Karras (l.) und Rundblick-Redakteurin Anne Beelte-Altwig in der Sonderausstellung „Weibermacht“ im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig. | Foto: Kathrin Ulrich, HAUM

Sie ist auf den Fotos leicht zu erkennen an ihrer krausen Lockenpracht. Heute sind die Locken weiß und in einem Kurzhaarschnitt gebändigt. Christa Karras wird im kommenden Jahr 80. Manchmal ist sie noch im Landtag anzutreffen, zuletzt bei der Anhörung zum Niedersächsischen Gleichberechtigungsgesetz (NGG). „Die Grundlagen dafür haben wir gelegt“, sagt sie mit Stolz. „Wir haben dafür gesorgt, dass es Frauenbeauftragte – damals hieß es Frauenbeauftragte – mit Rechten und Pflichten gibt.“ Zunächst einmal wurde ein Frauenministerium geschaffen. Unter dem Ministerpräsidenten Gerhard Schröder wurde 1990 Waltraud Schoppe die erste niedersächsische Frauenministerin und Christa Karras Staatssekretärin. Auch in der Wirklichkeit gab es die sprichwörtliche Hose nur einmal – und ein Mann entschied, wer sie bekam.

„Ich habe dafür gekämpft, dass es Frauenministerium heißt“, erinnert sich Christa Karras. In den 1980er Jahren war sie als erste Frau wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover gewesen und arbeitete danach als Frauenreferentin der grünen Landtagsfraktion. „Ich hatte ein gutes Standing in der Partei“, erzählt die promovierte Politikwissenschaftlerin. „Aber Schröder wollte Schoppe. Also mussten wir uns zusammenraufen.“ Schoppe, mutmaßt sie, hatte ihn im Bundestag beeindruckt. „Ihre Rede zur Vergewaltigung in der Ehe war ja auch klasse.“ In der gleichen Rede – ihrer ersten im Bundestag, mit der Waltraud Schoppe 1983 schlagartig berühmt wurde – hatte sie auch die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 gefordert. Verhaltener jedoch als Christa Karras, die Schröder zu Hause in Niedersachsen mit dem Thema beharrlich auf die Nerven ging. So erzählt sie es im Café des Landesmuseums, das derzeit eine Ausstellung mit dem süffisanten Titel „Weibermacht“ präsentiert. Christa Karras ist schon zum dritten Mal da. Museumsdirektor Thomas Richter und Kuratorin Anna Eunike Kobsdaj lassen es sich nicht nehmen, den Gast persönlich zu begrüßen. „Weibermacht“, erklärt Kobsdaj, sei ein zutiefst frauenfeindliches Thema in der Kunstgeschichte: „Es geht um die männliche Angst vor der weiblichen Machtübernahme.“

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine Frau mit fülligem dunklem Haar und Brille.
Christa Karras als Staatssekretärin im niedersächsischen Frauenministerium. | Foto: privat

Eine Stimmung wie damals, 1991, könne man sich heute kaum vorstellen, meint Christa Karras: „Wir kamen alle aus der Opposition und meine Wurzel ist auch noch die autonome Frauenbewegung. Endlich konnte ich umsetzen, was wir immer schon wollten.“ Die Ministerin und sie konnten „aus dem Vollen schöpfen“, so viele hoch qualifizierte Frauen bewarben sich für eine Position im neu gegründeten Ministerium. Mit zahlreichen Mitarbeiterinnen von damals ist sie bis heute befreundet. Ihr Verbündeter in Sachen Frauenpolitik, erzählt sie, war Staatskanzlei-Chef Reinhard Scheibe. „Schröder musste mitlaufen.“ Auch in allen Landtagsfraktionen fand sie Mitstreiterinnen für ihre Anliegen. Solche parteiübergreifenden Bündnisse für die Sache der Frauen, meint sie, gebe es heute ausgesprochen selten.

Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt eine Frau mit wuscheligem Haar und ernstem Gesicht.
Waltraud Schoppe war von 1990 bis 1994 niedersächsische Frauenministerin. | Foto: Fraktion Die Grünen

In den anderen Ministerien war jedoch von feministischer Aufbruchstimmung wenig zu spüren. „Das Justiz- und Innenministerium haben nach meiner Erinnerung das Niedersächsische Gleichstellungsgesetz nicht mitgezeichnet. Deswegen mussten es die Regierungsfraktionen in den Landtag einbringen.“ Heute trifft die Novelle des NGG erneut auf breiten Widerstand. Haben die Frauen zu viel verlangt? „Vor dreißig Jahren hätte ich gesagt: Ja, wir erwarten sehr viel von den Männern.“ Christa Karras nimmt sich Zeit zum Antworten. „Aber jetzt hatten sie dreißig Jahre Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass Frauen in der Gesellschaft genauso vertreten sein wollen.“ Ja, es gebe zu viel Bürokratie – aber wer sie abbauen wolle, solle nicht auf die Gleichstellung schielen, sondern es einfacher machen, einen Treppenlift einzubauen. „Frauen haben immer noch Nachholbedarf. Bei Fünfzig-Fünfzig sind wir noch nicht – und da möchte ich schon hin.“ Auch das Argument, es gebe nicht in allen Branchen ausreichend qualifizierte Bewerberinnen, lässt Karras nicht gelten: „Bevor ich Staatssekretärin wurde, wusste ich auch nicht, wie das geht. Man kann es lernen!“

Ihre Karriere war alles andere als vorgezeichnet: Sie besuchte die Volksschule, machte eine Lehre als Bürogehilfin, heiratete. Als ihr Mann sich entschloss, das Abitur nachzuholen und zu studieren, wurde ihr das „Bildungsgefälle“ in der Beziehung schmerzlich bewusst: „Ich konnte nicht mehr mithalten.“ Als junge Mutter besuchte sie ebenfalls das Abendgymnasium, trennte sich von ihrem Mann und studierte Psychologie. „Sie haben mir einen Abschluss gegeben, aber ich musste versprechen, nie in dem Beruf zu arbeiten“, erzählt sie lachend. Denn regelmäßig verwickelte sie ihre Professoren in Diskussionen darüber, dass die Gesellschaft und nicht nur der Einzelne – „beziehungsweise die Einzelne“ – schuld sei, wenn eine Person Probleme habe.

Gewaltbetroffenen Frauen galt schon immer ihr Engagement. In den 1980er Jahren gehörte sie zu den Gründerinnen des ersten autonomen Frauenhauses in Braunschweig. „Damals mussten wir noch beweisen, dass es Gewalt überhaupt gibt“, erinnert sie sich. „Damals hieß das ,Familienstreitigkeit‘. Die Polizei ging in Privatwohnungen nicht rein.“ Dass heute der Begriff „Femizid“ gebräuchlich ist, dass es das Gewalthilfegesetz gibt, seien Fortschritte – doch Gewalt gegen Frauen ist nicht seltener geworden. „Es ist einfach nur schrecklich: Alles ist rückläufig, was wir mühsam erkämpft haben“, sagt sie.

Ein historischer Kupferstich zeigt eine Frau, die auf einem alten Mann wie auf einem Pferd reitet und mit der Peitsche ausholt.
„Die männliche Angst vor der weiblichen Machtübernahme“: Georg Pencz, Aristoteles und Phyllis, um 1545. | Abbildung: Herzog Anton Ulrich-Museum, Ann-Katrin Senff

Das gilt auch für ihr zweites politisches Leitthema: das Recht, selbst zu entscheiden, ob man eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht. „Das war meine erste Handlung als Staatssekretärin“, erinnert sich Christa Karras: Ein Gesetz zum ambulanten Schwangerschaftsabbruch. In den 1980er Jahren, erzählt sie, entschied ein Ärztegremium darüber, ob eine Frau „würdig“ sei, ihre Schwangerschaft beenden zu dürfen. „Man musste zerknirscht aussehen. Wer zu gut gekleidet war, war schon raus.“ Der Abbruch geschah durch Gabe des Hormons Prostaglandin. Es bewirkte, dass die Schwangere praktisch eine Geburt erlebte. Nach dem Eingriff lag sie im Krankenzimmer in der Regel Seite an Seite mit Frauen, die gerade Mutter geworden waren. Das wollte Karras ihnen ersparen mit dem Gesetz, das einen ambulanten Abbruch erlaubte.

Die Ärztinnen, die sich damals mit ihr zusammen engagiert haben, gehen spätestens jetzt in Rente. „Heute weiß niemand mehr, wie schlimm es damals war“, ist sie überzeugt. Nach wie vor wird der Schwangerschaftsabbruch im Medizinstudium nicht gelehrt. „In Berlin üben sie die Ausschabung an Früchten. Das kann doch nicht wahr sein! Aus Unsicherheit oder Angst vor rechtlichen Konsequenzen sind immer weniger Ärzte und Ärztinnen zu einem Schwangerschaftsabbruch bereit.“ Dass an der Haltung zum Paragrafen 218 einmal die Wahl einer Verfassungsrichterin scheitern würde, hätte sich Christa Karras niemals träumen lassen.

„Wir waren gewohnt, dass alles besser wurde“, sagt sie. Ein Vorteil von Politik in den 1990ern: „Geld war nicht das Thema. Heute gibt es so viele Probleme und die Finanzen sind so angespannt.“ In der Kommunalpolitik ist Christa Karras immer noch aktiv. Allerdings mache sie keine Frauenpolitik mehr bei den Grünen, sagt sie: „Ich bin eine ,Altfeministin‘.“ Die Gänsefüßchen sind deutlich hörbar. Heute gebe es mit der LGBT-Community neue Verbündete, aber deren Anliegen dominieren ihrer Ansicht nach über die von Frauen. „Sexuelle Orientierung ist jetzt wichtiger, als Gewalt gegen Frauen zu verhindern. Die Bewegung zersplittert.“ Heute engagiert sie sich im Bezirksrat in der AG „Älter werden im Quartier“. Dort, wo sie früher mit ihrer WG in Braunschweig wohnte, lebt sie immer noch – jetzt mit ihrem Enkel. Den Winter allerdings verbringt sie jedes Jahr auf der Kanareninsel La Gomera. Spanien, sagt sie, sei weit vorne im Kampf gegen Gewalt an Frauen. „Selbst in meinem Tal auf Gomera gibt es eine Gruppe für Frauenrechte. Und auf der Serviette im Café steht: ,Keine Gewalt gegen Frauen!‘“

Dieser Artikel erschien am 8.12.2025 in Ausgabe #218.
Anne Beelte-Altwig
AutorinAnne Beelte-Altwig

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail
„Alles ist rückläufig, was wir mühsam erkämpft haben“, sagt die Frauenrechtlerin Karras