29. Nov. 2023 · 
Kultur

Bischof Meister in Sorge: Der evangelischen Kirche droht eine halbierte Mitgliederzahl

Der evangelische Landesbischof von Hannover, Ralf Meister, sieht die wachsende Zahl der Kirchenaustritte mit großer Sorge und erkennt darin eine Abkehr von früher prägenden Institutionen. „Die großen Metaphern für Zukunft und Hoffnung lösen sich auf und zerfallen in gesellschaftlich belanglose Miniaturen persönlicher Glücksmomente“, sagte Meister in seiner Rede am Mittwoch vor der 26. Landessynode seiner Kirche in Hannover.

„Unsere Aufgabe ist ambivalent und mühsam. Sie besteht darin, dem Versagen von Kirche und dem messbaren Glaubwürdigkeitsverlust zu begegnen und darin aufrichtig und wahrhaftig zu sein“, sagt Landesbischof Ralf Meister. | Foto: Jens Schulze

Als Tageslosung zitierte er eine Bibelstelle: „Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen, und treu sind wenige unter den Menschenkindern.“ In seiner Ansprache ging der Landesbischof auf eine aktuelle Untersuchung zur Kirchenmitgliedschaft ein, die erschreckende Details offenbart habe. So würden sich nur noch 13 Prozent der Bevölkerung als kirchlich-religiös bezeichnen. 25 Prozent seien zwar noch Kirchenmitglieder, aber in ihrer Haltung distanziert. Sechs Prozent hätten eine alternative, unbestimmte Religiosität – und die größte Gruppe mit 56 Prozent hätten eine säkulare Weltsicht. Für sie spiele Religiosität keine Rolle in ihrem Leben, auch wenn sie – noch – weiter der Kirche angehören.

Kirche rechnet bis 2030 mit 3,2 Millionen Austritten

Wenn sogar unter den Kirchenmitgliedern nur ein knappes Viertel im engeren Sinn kirchlich-religiös sei, dann stelle sich für die Kirche das Problem doppelt – als Schwund der Mitglieder zum einen, als Schwund der Religiosität zum anderen. Ein Viertel der Kirchenmitglieder sehe sich selbst schon nicht mehr als Christ. Aus der Untersuchung leitet Meister nun eine Prognose ab: „Bis 2025 ist mit dem Austritt von insgesamt fast einer Million evangelischer Kirchenmitglieder bundesweit zu rechnen, bis 2030 mit dem Austritt von insgesamt 3,2 Millionen Mitgliedern. Die von der ,Freiburger Studie‘ vorausgesagte Halbierung der Mitgliederzahl von 2017 bis zum Jahr 2060 könnte bereits in den 2040er Jahren erreicht sein.“ Bei der Frage, wie mit dieser Entwicklung umzugehen ist, verwies Meister zunächst auf positive Kontakte mit der Kirche. Diese „schienen die größte Gewähr dafür zu bieten, dass Bindungen aufgebaut werden“.

Wer in jungen Jahren etwa vor der Konfirmation die Kirche angenehm erlebe, halte die Treue, habe man lange angenommen. Jetzt aber meint Meister: „Diese Bindungen erweisen sich jedoch nicht als wirksam genug, dass sie die Entfremdungstendenzen aufwiegen können. Sie müssen durch immer neue Bindungserfahrungen aktualisiert werden.“ Das Gottesdiensterlebnis spiele schon eine Rolle, die Menschen erwarteten „ein ästhetisch ansprechendes Erlebnis und eine gute Predigt“. Auch die soziale und zivilgesellschaftliche Rolle der Kirche, etwa über Diakonie und Caritas, sei wichtig. Ausdrücklich nannte er die Telefonseelsorge, die angesichts der steigenden Zahl von Suiziden in Deutschland besonders wichtig sei.

Meister beharrt auf Gottesdienst am Sonntagmorgen

Aber auch die Aufarbeitung von Fehlern müsse schonungslos und offen geschehen, so von Vorwürfen, Würdenträger der Kirche hätten Hinweise auf sexuellen Missbrauch nicht rigoros und entschieden genug verfolgt. Die Rede des Landesbischofs beleuchtete viele Wege, die von der Kirche in dieser prekären Lage gegangen werden können. Er zeigte sich offen für viele Neuerungen, beharrte aber auch auf einigen traditionsreichen Ritualen. Dazu zähle der Gottesdienst am Sonntag um 10 Uhr. „Mit ihm bin ich aufgewachsen. Ihn wird es weiter geben und er ist es wert, dass ihm in Inhalt und Gestaltung Aufmerksamkeit und Sorgfalt zukommt. Die Unterstützung landeskirchlicher Einrichtungen für diese zentrale Aufgabe darf nicht nachlassen und kann noch ausgebaut werden.“

Meister rief die Christen dazu auf, „als aktive Miterzähler einer freien, demokratischen Gesellschaft“ aufzutreten – gerade angesichts von um sich greifendem Pessimismus und wachsender Demokratiefeindlichkeit. Die Kirchen seien „Träger einer großen, lebensdienlichen Erzählung“. Einleitend hatte der Landesbischof die Solidarität mit den jüdischen Gemeinden unterstrichen, die nach den Hamas-Anschlägen Anfang Oktober in Angst und Schrecken lebten. Das „-zigtausendfache Leid der palästinensischen Bevölkerung“ im Gaza-Streifen bedrücke ihn ebenso. Er schlug vor, Kirchengemeinden auszuzeichnen, die sich in vorbildlicher Weise dem Antisemitismus entgegenstellen.


Dieser Artikel erschien am 30.11.2023 in Ausgabe #209.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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